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Auf der Suche nach dem Wesen der Zeit

Zeit, Sanduhr

FreiSein für qualitätvolle Lebenszeit

 

Was wurde nicht schon alles über das Phänomen Zeit nachgedacht, philosophiert und niedergeschrieben – und doch bleibt immer noch der schale Beigeschmack, dass man die Zeit nicht wirklich in den Griff zu kriegen scheint. Auch ich wage mich mit meinen Ausführungen an das Thema heran und versuche, mit meinen Gedanken zum besseren Verständnis dieser unser aller Leben bestimmenden Erscheinung beizutragen.

Aber wo beginnen? Bei meinem Kater, für den Zeit offenbar keine Rolle zu spielen scheint? Bei Marcel Prousts Versuch, der Zeit in seinem siebenbändigen Roman „À la recherche du temps perdue“ (dt. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) auf tausenden von Seiten auf die Spur zu kommen? Beim persönlichen Leben? Oder bei Michael Endes bahnbrechendem Märchenroman „Momo“ aus den 1970er-Jahren, in dem er unter anderem die unsägliche Verbindung von Zeit und Geld, die die menschliche Gesellschaft schleichend aber nachhaltig vergiftet, thematisiert?

Stellen wir zuerst doch einmal grundsätzliche Überlegungen an. Wer kennt es nicht, das so unterschiedliche Erleben ein und derselben Situation: da hofft man, dass die Zeit endlich vorbei sein möge – und sie zieht sich und zieht sich und scheint gar kein Ende zu nehmen; da fürchtet man, dass die Zeit viel zu schnell um sein wird, und wünscht sich, dass sie nie zu Ende gehen mag. Die Zeit also als individuelles Ereignis, obwohl sie doch von der Uhr erfasst objektiv gleich lange ist.

Während ich hier ständig das Wort „Zeit“ in meinen Laptop tippe, differenziert die griechische Mythologie das Phänomen und beschreibt es durch zwei Begriffe: Demnach ist Chronos der gleichförmige Ablauf der Zeit, die unseren Alltag bestimmt, wir finden das Wort auch in der deutschen Sprache wieder, etwa in Chronik, Chronologie oder Chronometer; andererseits existiert Kairos, das wörtlich übersetzt „das rechte Maß“ oder „die gute Gelegenheit“ bedeutet. Kairos gilt mythologisch als die Personifizierung des günstigsten Zeitpunkts. Der wesentliche Unterschied der beiden Blickwinkel auf Zeit ist deren quantitative (Chronos) oder qualitative (Kairos) Betrachtung. Und in dieser Differenzierung liegt letztendlich auch das Geheimnis des gesamten Phänomens.

Das beschreibt auch Michael Ende in dem von mir weiter oben schon angesprochenen Werk „Momo“ kongenial. Um es kurz zu machen: In einem verschlafenen Kleinstädtchen mediterranen Charakters tauchen eines Tages plötzlich und unerwartet „graue Herren“ von der Zeitsparkasse auf. Der erste, den es erwischt, ist der Friseur des Ortes, Herr Fusi. Ihm, der mit seinem Leben immer wieder hadert und sich ein besseres wünscht, wird vor Augen geführt, dass er bislang seine gesamte Lebenszeit „ausgegeben“ hat. Der Vorschlag des ihn in seinem Salon besuchenden grauen Herrn ist, dass er Teile seiner Lebenszeit auf ein Konto bei der Zeitsparkasse einzahlen solle, wo es sich – je länger er es liegen lasse – mit Zinsen und Zinseszinsen sogar verdoppeln lasse. Die Logik ist im Sinne des uns bereits zur Gewohnheit gewordenen Gesellschaftssystems bestechend, gleichzeitig aber und bei genauerer Betrachtung völlig absurd. Wie soll das gehen, einige Stunden meines Lebenstages nicht zu nutzen, sie also einzusparen, um irgendwann später dann plötzlich das Doppelte davon genießen zu können? Im Roman aber fallen die Bürger des Städtchens nach und nach auf diesen Trick herein. Was folgt, ist eine ungeheure Beschleunigung des Lebens, die sich unter anderem darin ausdrückt, dass aus der Dorfkneipe ein Fast Food Lokal wird, Kinder nicht mehr spielen dürfen, sondern in Schulen, die von Ende Seelensilos genannt werden, ihr Dasein fristen müssen oder der Fremdenführer und Geschichtenerzähler Gigi zum unleidlichen Fernsehstar mutiert und dabei seine Seele verkauft. Was niemand weiß, ist die Tatsache, dass die eingesparte Zeit unwiderbringlich verloren zu gehen droht, da die grauen Herren diese für ihre eigene Existenz brauchen, in dem sie die „Stundenblumen“ der Menschen in ihren lebensspendenden Zigarren verrauchen. Zum Glück aber existieren der Straßenkehrer Beppo, der seine Arbeit Besenstrich um Besenstrich ausführt ohne auf des Ende der zu kehrenden Straße zu achten und das vom Himmel gefallene alterslose Mädchen Momo, das von der Schildkröte Kassiopeia zum Herrn der Zeit, dem Meister Hora, geführt wird und den Menschen letztendlich die ihnen gestohlene Zeit zurückbringt.
Beeindruckender kann man das Wesen der Zeit nicht beschreiben. Verdeutlicht werden im Buch der verrückte Zusammenhang von Zeit und Geld, aber auch die beiden Zeitqualitäten des Chronos, der nur Vergangenheit und Gegenwart kennt und des Kairos, der den Augenblick heiligt.

Es wird uns zwar nicht gelingen, ständig dem Kairos zu huldigen, aber ein Mehr davon kann uns und der Welt wirklich nicht schaden. Was nutzt uns das Hetzen und Rennen, um der Vergangenheit zu entkommen und auf eine erträumte Zukunft hin zu laufen, die womöglich niemals Wirklichkeit wird? Kennen wir nicht alle das sehnliche Erwarten des Feierabends, des Wochenendes oder gar der Pension, Zeiten, in denen wir endlich aus dem Hamsterrad des Alltäglichen auszubrechen im Stande sind? Aber was machen wir denn dann mit dieser Zeit? Erschöpft vom Arbeitstag und der oft ungeliebten Tätigkeit, die wir uns auferlegt haben (lassen), um unsere Existenz zu sichern, schlagen wir den Rest des Tages oder die Tage zwischen den Wochen oftmals nur vor den digitalen Endgeräten oder in einem weiteren Stakkato von Freizeitaktivitäten tot, um uns den grundsätzlichen Lebensfragen, auf die wir keine Antwort wissen, zu entziehen.

Doch es gibt „Heilung“.
Die Volksweisheit „Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich“ führt uns auf eine wichtige Spur. Sie zeigt uns, dass wir die „Herren“ unserer Lebenszeit sind. An uns liegt es, dieser Zeit die notwendige Qualität zu geben. Zeit zu sparen bedeutet in diesem Zusammenhang wohl eher, dass wir sie dafür nutzen, was uns wichtig und sinnvoll erscheint.
Der Resilienz-Coach und Fachbuchautor Sebastian Mauritz führt in einem Beitrag auf den Seiten seiner Resilienz-Akademie einige wesentliche Beispiele an, wie das Zeiterleben nachhaltiger und verträglicher gestaltet werden kann. So empfiehlt er das Anlegen einer „To-Feel-Liste“ anstatt einer weiteren „To-Do-Liste“. Diese soll das beinhalten, was man im Alltag erleben (und nicht erledigen), also fühlen mag. In besonders stressigen Zeiten, in denen Chronos die Herrschaft übernimmt, rät Mauritz zum „Kairos-Mantra“. Mit den Worten „Ich“, „Hier“ und „Jetzt“ soll der Hetze Einhalt geboten werden, wie überhaupt Pausen von großer Bedeutung sind, um die Batterien wieder aufzuladen.
Auch die Beschäftigung mit der Endlichkeit des Daseins und dem Tod ist ein wichtiges Tool, um jenen Dingen Raum zu geben, die man im eigenen Leben verwirklichen mag und in einem Lebenskalender festhalten sollte. Auf diese Weise, so der Resilienzexperte, finde man zu Achtsamkeit und Gegenwärtigkeit, könne Zeiten für Reflexion, Lernen aus der Vergangenheit und das Erkennen von Chancen nutzen und Flexibilität und Anpassungsfähigkeit trainieren. Wenn nicht alles nach einem festgelegten Zeitplan erfolgt, bleiben eben jene wichtigen Räume, die Kairos möglich machen.
Für mich persönlich ist es auch heilsam, meinen Kater in seiner Lebensweise zu beobachten. Die oft als eigennützig, ja sogar egoistisch dargestellte Spezies weiß offenbar um das Wesentliche im Leben.

Michael Ende hat in seinem Roman dieser Lebensweise im schon genannten Beppo Straßenkehrer ein Denkmal gesetzt. Auch im ganz Alltäglichen kann es gelingen, der Zeit ihre Qualität zu geben, in dem man auf das blickt, was gerade (zu tun) ist und sich nicht schon beständig das Ziel vor Augen hält, das es möglichst schnell zu erreichen gilt.

Der Weg ist das Ziel – und diesen Versuch für eine bessere Lebensqualität ist es allemal wert.

Quellen:
https://michaelende.de/momo
https://www.resilienz-akademie.com/kairos-und-chronos/

 

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