FreiSein für natürliches Lernen
Was wurde da nicht schon alles in die Welt gesetzt, wenn es ums Lernen geht? Wie belastet wurden (junge) Menschen mit den viel zu oft falschen und großteils kontraproduktiven „Lerntheorien“, so dass sie die Lust am Lernen verloren ohne aber wirklich daran vorbeizukommen? Denn Lernen ist ein Prozess, der uns ein Leben lang – von Geburt bis zum Tod – begleitet und an dem wir eigentlich nicht vorbeikommen. Diese Erkenntnisse der Gehirnforschung, die ein noch recht junger wissenschaftlicher Zweig ist, sollten dazu dienen, dass wir Lernprozesse so gestalten, dass Menschen ein Leben lang auch Lust am aktiven Lernen haben.
Bildungseinrichtungen aber – und da wiederum vor allem die Schule – gehen immer noch von der „klassischen“ Art des Lernens als Aneignung von Wissen und Lebenstüchtigkeit durch Konditionierung aus. Sprich: Wer in der Lage ist, sich die von einem Lehrplan bzw. Curriculum vorgegebenen Inhalte so reinzuziehen, dass er sie zur rechten Zeit wieder ausspucken kann, wird durch eine positive Bewertung und dem Versprechen auf eine gute berufliche Zukunft belohnt. Dieser polemisch auch als „Bulimie-Lernen“ bezeichnete Vorgang verdirbt aber tatsächlich nur die Lust, Lernen weiterhin als etwas Positives zu erleben. Es gibt viel zu viele Menschen, die froh sind, wenn sie diese Lernart endlich hinter sich lassen und sich dem widmen können, was sie wirklich interessiert. Und genau das ist ein Schlüssel, um Lernen als dauerhaften Bestandteil ins Leben zu integrieren. Auf diese Weise wird die dem Menschen innewohnende Lernform, nämlich das – wie ich es gerne nenne – natürliche Lernen bewusst und kann daher auch bewusst eingesetzt werden. Das schulische Lernen wird auf diese Weise aber auch als etwas entlarvt, was es oftmals ist: Qual und sinnbefreites Tun.
Ähnlich ist es mit dem Üben. Auch das wird in der Form, wie es dem Menschen von und in den Bildungsinstitutionen abverlangt wird, oftmals als quälend und sinnlos erlebt. Und das hat einen Grund: mangelndes bzw. nicht vorhandenes Interesse am Zu-Lernenden. Ein mir bekannter Musiker hat auf meine Frage, wie lange er denn pro Woche übe, um sein Instrument so hervorragend zu beherrschen, entrüstet mit den Worten „Wieso üben?“ geantwortet. Im danach folgenden Gespräch hat er mir erklärt, wie er zu seinem aus meiner Sicht perfekten Spiel kommt. Er spiele sein Instrument, sagte er da, er spiele so lange wie es ihm Freude mache bzw. so lange bis er das von ihm selbst gesteckte Ziel erreicht habe. Ein beredtes Beispiel, wie wir, wie unser Gehirn funktioniert.
Diese praktische Erkenntnis wird durch die bisherigen Ergebnisse der Gehirnforschung eindrucksvoll bestätigt. Im vom deutschen Neurowissenschafter, Psychiater und Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm, Manfred Spitzer, vorgelegten Grundlagenwerk „Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ wird uns Wesentliches über die Funktion des Gehirns vermittelt, das sich unmittelbar auf unser Verständnis des Lernens auswirken müsste. So beschreibt Spitzer, dass unser Gehirn nicht anders könne als zu lernen. Eindeutig stellt er klar, dass wir nicht durch Büffeln und Tests wirklich lernen, sondern dadurch, dass wir ganz praktisch Fähigkeiten und Fertigkeiten im Leben und fürs Leben erwerben. Kein Wunder also, wenn wir uns an den so genannten Schulstoff (dessen Vermittlung der Professor und Leiter des Zentrums für Persönlichkeitsbildung und Begabungsförderung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich Thomas Mohrs so treffend „Stoffstopfgänsepädagogik“ nennt) kaum noch erinnern können. Er und die von mir als „schulisches Lernen“ bezeichnete pure Wissensaneignung waren offenbar wertlos, weil ihn das Gehirn nicht behalten wollte. Spitzer beschreibt das in seinem Buch so: „Soll das Lernen uns zum Leben befähigen, sollen wir also für das Leben lernen, geht es in aller Regel um solche allgemeinen Kenntnisse, um Fähigkeiten und Fertigkeiten. Unsere Sprache ist ein gutes Beispiel hierfür. Sie steckt voller Regeln, die wir nicht wissen, die wir aber können. Wir haben diese allgemeinen Regeln im Kopf, aber nicht als Regeln (die wir aufschreiben könnten), sondern als Fähigkeit der Beherrschung unserer Muttersprache.“ Wie falsch liegt also Schule, wenn sie uns zu einem unnatürlichen Lernen zwingt. In einem ebenfalls beachtenswerten Kapitel beschreibt Manfred Spitzer dann auch die viel zitierte „Motivation“. Ein psychisch und physisch gesunder Mensch ist in der Lage, intrinsisch motiviert an jene Themen heranzugehen, die ihn tatsächlich interessieren. Die Motivation von außen ist eigentlich nicht möglich. Was aber von außen möglich ist, ist jenen für eine Sache motivierten Menschen zu demotivieren. Etwa dadurch, dass Fragen nicht beantwortet werden, Sachverhalte nicht geklärt werden können, weil sie nicht am Stunden- oder im Lehrplan stehen und man an seinen Begabungen, Talenten und Fähigkeiten vorbei zu lernen hat.
In diese Kerbe schlägt auch der bekannte Gehirnforscher Gerald Hüther. In zahlreichen Büchern, Vorträgen und Online-Videos versucht er seit Jahren, den Menschen gebetsmühlenartig klar zu machen, dass „Lernen individuell ist, subjektiven Bewertungen folgt, emotional aufgeladen sein muss und in einem sich selbst organisierenden Prozess erfolgt.“ Wir erfahren damit, dass sowohl die Art des Lernens als auch die Auswahl der Lerninhalte ein dem einzelnen Individuum vorbehaltenes und innewohnendes Geschehen sind. Dort, wo es mich emotional hinzieht, ist Lernen ein ganz natürlicher, freudvoller und erfolgreicher Prozess, der daher auch nicht von außenstehenden Personen vorgegeben werden muss. Vielmehr gilt es, Räume zu schaffen, in denen Wissen zur Verfügung gestellt und praktische Erfahrungen gesammelt werden können. Lehrer wären auf diese Weise dann Lernprozessbegleiter bzw. Mentoren, an ihrer Seite wären Meisterinnen und Meister ihres Faches, die von den (jungen) Menschen „angezapft“ werden können. Die öffentliche Hand hätte dafür zu sorgen, dass das auch in der Verfassung verankerte Recht auf Bildung, auf diese Weise und nicht durch die Verordnung einer Schulpflicht (sic!) umgesetzt würde. Wie das ausschauen könnte, beschreibt der wunderbare, vom freischaffenden Philosophen Bertrand Stern und seiner Idee des „Frei-sich-Bildens“ inspirierte Spielfilm „Caraba“. In der Tradition von Ivan Illich, der mit seinem Buch „Entschulung der Gesellschaft“ schon in den 1970er-Jahren den bildungspolitischen Diskurs anstoßen wollte, geht es genau darum, die Institution Schule zu „beseitigen“ und durch „Landschaften der freien Bildung“ zu ersetzen. In – wie eine Bibliothek eingerichteten – Bildungsräumen treffen Bildungshungrige und Wissbegierige mit den Meistern ihres Faches zusammen und lernen voneinander und miteinander. Dabei stehen die Fragen im Vordergrund, die – wie schon Erich Kästner wusste – das sind, „aus denen das, was bleibt, entsteht.“
Auch die Erfahrungen von Bertrand Sterns Halbbruder André Stern, der selber nie zur Schule gegangen ist, und dennoch – oder gerade deshalb – ein erfolgreicher und vielbegabter Mensch geworden ist, zeigen in diese Richtung. Er hatte das Glück, dass seine Eltern ihm die Möglichkeit gegeben haben, seinen eigenen, selbstbestimmten Bildungsweg zu gehen und damit das natürliche Lernen zu einem bewussten Geschehen zu machen.
Womit wir bei der Frage angelangt sind, wie sich diese Erkenntnisse der Gehirnforschung und die praktischen Lernerfahrungen von Menschen, die sich der Bildungsmaschinerie Schule entzogen haben und die diese Forschungsergebnisse bestätigen, tatsächlich umsetzen lassen. Und da stehen wir plötzlich vor einer schier unüberwindbar erscheinenden Barriere. Systeme und die sie vollziehenden Behörden wie Bildungsdirektionen sowie Kinder- und Jugendwohlfahrt, aber auch die Kinder- und Jugendanwaltschaften, ja sogar die UNICEF bewerten individuelle Wege nämlich grundsätzlich als einem jungen Menschen abträglich und meinen weiterhin, dass die Schule ein wesentlicher und wichtiger und daher durch nichts zu ersetzender Lernort sei. Alle, die sich dieser oftmals als Tortur erlebten Maßnahme entziehen wollen, werden durch Verwaltungsstrafen und sogar Familiengerichtsverfahren auf Schiene zu bringen versucht.
Nun ist es durchaus möglich, Schulen zu finden, die das Lernen anders gestalten. Die von Gerald Hüther 2012 gemeinsam mit Margret Rasfeld und Stephan Breidenbach ins Leben gesetzte Initiative „Schule im Aufbruch“ hat schon seit 2014 ihre Filialen auch in Österreich. Wesentlich ist ihr, Potenzialentfaltung in der Schule zu ermöglichen. Dazu braucht es „eine neue Lernkultur und eine besondere Haltung gegenüber Schüler*innen“. Großgeschrieben werden sollen daher „Selbstverantwortung statt Pflichterfüllung, Schatzsuchen statt Fehlersuchen, neue Lernformate anstatt Frontal-Unterricht und Lob und Vertrauen statt Negativ-Auslese oder Laissez-faire.“ In der Regel sind die Plätze in solchen Schulen rar und – was dem österreichischen Schulsystem geschuldet ist – meist nur für die Menschen, die vor Ort leben, zu haben.
Andere Möglichkeiten, das Lernen so individuell wie möglich zu gestalten, haben vor allem in der so genannten „Corona-Zeit“ eine Hochblüte erfahren, sind aber im Lauf des Jahres 2023 großteils wieder verwelkt: Lerngruppen oder Online-Schul-Projekte, die die Möglichkeit des in Österreich verfassungsmäßig garantierten Homeschoolings nutzten, scheiterten oft an den Bedingungen der am Ende eines Schuljahres notwendigen Externistenprüfungen. Diese wurden von 2022 an sukzessive verschärft, so dass ein Antreten zu diesen Leistungsfeststellungen oftmals mit einem Scheitern verbunden war. Damit muss der Schüler das – wenn auch nur in einem Fach – nicht positiv abgeschlossene Schuljahr an einer öffentlichen Schule wiederholen.
Dennoch gibt es weiterhin eine zwar kleine, aber schlagkräftige Gruppe von „Widerständlern“, die das Kindeswohl anders interpretieren als die Behörden. Sie orientieren sich tatsächlich an den Bildungs- und Lebensbedürfnissen ihres Nachwuchses und nehmen die Schikanen der Behörden in Kauf, begeben sich auf Bildungsreisen oder nutzen die Möglichkeiten freier Bildungswege in anderen Ländern wie Irland, Italien oder Dänemark sowie Kanada, Mexiko, die USA oder Neuseeland bzw. Australien.
In Österreich startet im Herbst eine Initiative namens „get.b!ldung – Plattform für Bildungshungrige & Wissbegierige“, die die Ideen von Ivan Illich und Bertrand Stern umsetzen will. Über eine Internetplattform sollen „BildungsRäume“ entstehen, in dem Bildungshungrige und Wissbegierige mit Meisterinnen und Meistern ihres Faches vernetzt werden. Auf diese Weise sollen „Interessen, Begabungen, Fähigkeiten und Stärken der (jungen) Menschen Ernst genommen werden und sie jene Kompetenzen erhalten können, die sie brauchen, um das ihre umzusetzen und zum Wohl für sich und die Welt in die Gesellschaft einzubringen.“
Damit ist zwar die rechtliche Situation nicht legal zu umgehen, es soll aber gesellschaftliches und politisches Bewusstsein geschaffen werden für das, was wirklich nachhaltiges Lernen ermöglicht und was die Neurowissenschaft schon längst bestätigt hat, aber in den meisten Bildungssystemen zum Schaden des Menschen und der Zukunft unserer Zivilisation trotzdem nicht angewendet wird: das natürliche, interessenbasierte und selbstbestimmte Lernen als Basis allen Lernens.
Buchtipps:
Gerald Hüther, Mit Freude lernen – ein Leben lang, ISBN 978-3-525-70182-9
Ivan Illich, Entschulung der Gesellschaft, ISBN 978-3-406-70979-1
Manfred Spitzer, Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens, ISBN 978-3-8274-1723-7
André Stern, … und ich war nie in der Schule, ISBN 978-3-89883-228-1
Bertrand Stern, Frei sich bilden – Entschulende Perspektiven, ISBN 978-3-937797-34-2