Wahrheitssuche (Danke an Julian Assange)

Wahrheit

FreiSein für die Wahrheit

 

Es gibt meine Wahrheit und es gibt deine Wahrheit. Die beiden treffen sich fast nie. Gemeint sind unsere inneren Wahrheiten – Überzeugungen, Wahrnehmungen, Einstellungen. Und es gibt eine äußere Wahrheit, die uns alle betrifft. Beide Wahrheiten – die innere und äußere – hängen zusammen, denn wer sich selbst belügt, kann auch leichter getäuscht werden.

Das Verschwinden der Wahrheit aus unseren Köpfen

Als Kind wird dir beigebracht: Sag immer die Wahrheit!
Was man einem Kind eigentlich nicht beibringen muss. Es kennt nur die Wahrheit. Es zeigt, was es will, was ihm gefällt, was ihm schmeckt und vor allem, was ihm nicht schmeckt und was es fühlt. Manches davon wird belächelt, einiges stößt auf wenig Gegenliebe und muss umerzogen werden. Die naive Unerfahrenheit der jungen Menschen wird in die richtigen, in die wahren Bahnen gelenkt.

Ein Kind glaubt an seine Träume – die nächtlichen sowie jene von einer strahlenden Zukunft, begreift jedoch bald, dass die Erwachsenen in dieser merkwürdigen Welt wenig Träume haben. Wo ist man da nur hingeraten?
Wenn es irgendwo drückt, bekommt es gesagt, dass alles gut sei, und sowohl deren Tragödien wie Freudenausbrüche werden zumal als übertrieben kommentiert. Die Kleinen erkennen, dass an der eigenen Wahrheit etwas nicht stimmt.

Steht jedoch ein ernst blickender Mensch im Fernsehgerät, lauschen die Erwachsenen ehrfürchtig und glauben jedes Wort. Sie kennen also die Wahrheit. Ihnen muss man zuhören.

Die Weisheit erwachsener Menschen beeindruckt die Kleinen. Vielleicht wissen sie so viel, weil sie so alt sind oder weil die gescheiten Menschen im Fernsehen es gesagt haben. Jedenfalls wissen sie alle: Das Leben ist schwer und ungerecht. Wünsche werden selten erfüllt. Regeln müssen unter allen Umständen befolgt werden, und der Mensch ist hilflos und schwach.
Dem Kind dämmert es langsam – kein Erwachsener ist glücklich, und auch das fröhliche Lachen der Kindheit verschwindet, hat aufgrund der unerfreulichen Wahrheit keinen Platz in dieser Welt.
Dem kindlichen Geist entwachsen, streitet im jugendlichen Herzen die eigene Wahrheit mit der offensichtlich tatsächlichen Wahrheit. Es ist ein stumm-dröhnender innerer Kampf, der das saftige Gras der jungen Erwartung verdorren lässt.

Herausgewachsen aus den Jugendschuhen wissen wir es mit Sicherheit – alle anderen haben recht. Müssen recht haben. Es kann nur eine Wahrheit geben, und diese gilt es zu verteidigen. In der großen Masse an eine gemeinsame Wahrheit zu glauben, wird zur bequemen Gewohnheit. Wir lernen, die Wahrheit nicht zu sagen und später, sie nicht einmal zu denken.

Doch die eigene Wahrheit verstummt nicht, das tut sie nie, wir drehen sie nur leiser. Der innere Konflikt geht weiter – die meiste Zeit unbemerkt. Wir spüren das innere Rebellieren oft nur dann, wenn uns jemand mit einer anderen Wahrheit begegnet.

Die Wahrheit wiederentdecken

Diese verlorene Wahrheit gilt es wieder zu finden, denn wer sich selbst belügt, verkennt die Wahrheit auch in der Außenwelt.

Dennoch wissen die Menschen so viel. 
Auch ich wusste enorm viel. Ich wusste beispielsweise, dass es viele unangenehme Menschen gibt. Und sie fanden mich – immer und überall.
Hatte ich recht damit? Natürlich hatte ich recht. Ich wusste es! Nahezu begeistert bestätigte ich mir immer wieder mein Wissen und wollte mich nunmehr vorbereiten – auf jedes mögliche und unmögliche Szenario, das mir begegnen könnte und das doch nie eintraf, denn das Leben liebt nicht die Harmonie, aber die Überraschung.
Mein rastloser, analytischer Verstand unterstützte das. Er liebt es, Dinge ganz genau zu betrachten und hat die besondere Gabe entwickelt, aus kleinen Problemen große zu machen. Er fragte sich – und auch mich –, was zuerst war: der Gedanke oder das Ereignis? Hab ich aus Erfahrung gelernt oder zog ich aufgrund meiner Erwartung all die Quälgeister an? Hätte mich vieles nicht gestört, wenn ich nicht regelrecht nach ihnen Ausschau gehalten hätte? Womöglich lauerten mir überhaupt keine Menschen auf, nur um mich zu nerven. Vielleicht ist es ihr eigener innerer Konflikt, der sie so handeln lässt und meiner, sie so zu betrachten.
Auf einmal wusste ich gar nichts mehr.

Es könnte sogar sein, dass das Leben gar kein Interesse daran hat, mich zu quälen oder Freude zu bereiten. Das ist meine Aufgabe. Es bietet mir Rätsel, über die ich zur Wahrheit vordringen kann, wenn ich neugierig genug bin, mich mit ihnen zu beschäftigen.

Mir schwante plötzlich eine Erkenntnis, die mir erstmal besorgniserregend erschien: Etwas zu wissen muss nicht die Wahrheit sein. Und ich fragte mich weiters: Welches Wissen ist fertig gewusst? Welches kann sich noch ändern? – Einmal oder sogar viele Male.

Vielleicht sind Wahrheiten auch so vielfältig wie Kunstgeschmack? Realistisch oder abstrakt, farbenfroh oder einfärbig, kräftig oder matt, warm oder kühl wirkend, leuchtend oder dunkel gehalten, mit oder ohne Menschen, Sommer oder Winter, verschiedene Perspektiven, verschiedene Gefühle.
Vielleicht hält jeder Mensch einen Pinselstrich der Wahrheit in seinen Händen und nur alle zusammen ergeben das vollständige Bild. Dann sollte auch niemand die Grenze des anderen überschreiten, denn ein Strich, der von einem anderen verdeckt wird, ist nicht mehr sichtbar.

Die wahre und unwahre Wahrheit

Wir können uns auch dafür entscheiden, dem medialen Wissen Glauben zu schenken, das in den Nachrichten der Mainstream-Medien vermittelt wird. Es ist wie meine Gedanken: immer das schlimmstmögliche Szenario bietend, altklug und mit nur einem flüchtig über die Fakten huschenden Blick. Doch sie besitzen die Wahrheit – durch die Kraft der ständigen Wiederholung vor gutgläubigem Publikum.

Wahrheit wird oft mit Meinung verwechselt. Zwei Menschen können die gleiche Situation völlig gegensätzlich beurteilen. Und beide haben recht. Zum Streit kommt es, wenn beide recht haben müssen. Idiotie ist schließlich eine weitverbreitete Krankheit, die immer andere Menschen befällt.
Das ist der Stoff, aus dem Kriege gewebt sind. Krieg ist ein großer Konflikt, bei dem es keinen Gescheiten gibt und bei dem der Stärkere gewinnt. Der Sieger schreibt dann die Geschichte, formuliert die Wahrheit.

Wer die Macht hat, hat die Wahrheit. Denn Wahrheiten sind anpassungsfähig. Geschichte kann umgeschrieben, das Morgen bereits heute vorbereitet werden. Man wird in Werte hineingezwängt, aus Ideologien herausgedrängt, zwischen Identitäten herumgeschubst und mindestens sprachlich einer Operation unterzogen. Das alles vermischt man zu einem regenbogenbunten Brei, in dem man sich woke und klimaneutral fühlt und in seiner angepassten Unangepasstheit akzeptiert wird.

Die wahre Wahrheit hingegen kennt kaum jemand. Schon allein deshalb wird sie als nicht wahr empfunden. Der Wahrheitssuchende stößt auf Unverständnis, Widerstand, Ignoranz und wird demütigend bestraft. Doch schon zahlreiche solcher unwahren Wahrheiten haben sich als wahr herausgestellt.
Im Lichte der Oberflächlichkeit wird der Suchende rasch fündig. Wer jedoch tiefer gräbt und sich in die Dunkelheit der Geheimnisse begibt, hebt den dort verborgenen Schatz, der so manches Mal ein gar hässliches Gesicht zeigt, sobald die Verschleierung endet.
Jede Lüge verbirgt eine Wahrheit, und jede Lüge entsteht aus Angst. Aus Angst, bemerkt, gesehen, entdeckt zu werden – den schützenden Mantel der Lüge heruntergerissen zu bekommen und entblößt dazustehen.

Jeder Mensch hat ein Recht auf die Wahrheit. Hat er deshalb auch die Pflicht zur Wahrheit oder zur Wahrheitssuche? Oder hat er vielmehr auch ein Recht auf die Lüge?

Die Suche nach der äußeren Wahrheit

Immer wieder gibt es Menschen, die auch nach der äußeren Wahrheit suchen. Verräter an der Wahrheit, die behaupten, die Wahrheit wäre nicht wahr. Sie suchen unermüdlich und mutig, stöbern in fremden Angelegenheiten, die eigentlich unser aller Angelegenheit sind, und dann – das ist wohl ihr schwerstes Verbrechen – sprechen sie die entdeckte Wahrheit aus.

Es hat sie immer gegeben. Sie sind, was man im Nachklang Helden nennt. Gehasst, getreten, verfolgt von ihren Zeitgenossen, haben sie den Lauf der Geschichte verändert.

Wird einer Zeit ein solch widerspenstiges Juwel geschenkt, das nicht glauben mag, was wahr ist, wenn es nicht wahr ist, dann gilt es, dieses vor dem Zorn der anderen zu schützen. Denn wenn man sieht, wie mit Wahrheitsverkündern umgegangen wird, dann wird einem eines deutlich: Die Wahrheit ist gefährlich! Sie ist die friedliche und zugleich schlagkräftigste Waffe gegen die Lüge. Ihr Erscheinen trifft mit einem Schuss und bringt Veränderung in Gang. Die Wahrheit führt keine Kriege, sie bringt Frieden und Freiheit. Der Wahrheitssuchende muss deshalb zum Feindbild gemacht werden, durch Lügen, Verdrehungen, Verwirrungen. Aus diesem Druck kann ein geschliffener Stein oder ein Diamant entstehen.

Ein solch kostbarer Mensch hat uns heute hier zusammen geführt. Er ist das Gesicht der Wahrheit, das den Fäusten der Gegner solche Wunden zufügt hat, dass sie nach Vergeltung gierten und dafür jedes Mittel nutzten und beugten. Er hat die Korruption der scheinbar Gerechten aufgedeckt, die Brutalität und Kriegslust der Weltenretter, die Verletzlichkeit der Starken und nicht zuletzt die Schwäche ihrer Lügen. Er hat den Mächtigen ihre Macht verweigert, den Reichen ihre Bestechung, den Vorlauten sein Gehör.
Diesem Stern, der aufgegangen war, musste das Leuchten verboten werden. Der Schwer-Erziehbare musste so hart bestraft werden, dass auch potentielle Nachahmungsaufdecker seine Qualen spüren konnten. Zukünftige Problemkinder wurden diszipliniert, bevor sie ihrem Drang zur Wahrheitssuche nachgeben konnten.

Julian Assange wurde so gut wie jedes Menschenrecht entzogen – die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Bewegungsfreiheit, das Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit, das Recht, auf einen fairen Prozess, das Recht auf eine korrekte mediale Behandlung, ebenso das Verbot der Rufschädigung und Verleumdung und das Recht, mit seiner Familie zusammen sein zu können. Man hat ihn verfolgt, ausspioniert, überwacht und wollte ihn hinter dicken Mauern verschwinden lassen. Doch die Menschen haben ihn nicht vergessen, und gemeinsam haben wir das Unmögliche möglich gemacht.

Der Journalismus ist dennoch nicht frei, und Journalisten sind dazu da, die Wahrheit zu erkunden und zu verkünden, Licht ins Dunkel zu bringen. Sie sollten die Hüter einer freien Gesellschaft sein.
Auch die Wahrheit ist nicht frei, aber sie drängt überall an die Oberfläche. Und wir alle können Wahrheitssuchende und Wahrheitsfindende sein und gemeinsam die großen Lügen unserer Zeit, unserer Welt beenden. Das jedenfalls ist meine Wahrheit.

Ich ende mit einem wichtigen Zitat von Julian Assange: „Wenn Lügen Kriege beginnen, kann Wahrheit Frieden bringen.“

 

Dieser Text wurde von Daniela Lupp verfasst und bei der Finissage der Ausstellung „Kunst für Assange“ am 19.7.24 gelesen.

 

 

 

 

 

 

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