Wir haben eine Wahl

Demokratie

FreiSein durch Mitbestimmung

 

In etwa zweieinhalb Wochen wählt Österreich einen neuen Nationalrat, also genauer gesagt alle jene, die zur Wahl berechtigt sind. Wenn man die Wahlbeteiligung der letzten Jahre betrachtet, kann man feststellen, dass diese von Mal zu Mal geringer wird. Bei verschiedenen Wahlgängen auf Gemeinde-, Bundesländer- bzw. Bundesebene pendelt sie zwischen 60 % und zwei Drittel. Das heißt, dass ein Drittel bis 40 % der Wahlberechtigten diese Möglichkeit der Mitbestimmung in unserer repräsentativen Demokratie nicht nutzen. Dadurch wird das Wahlergebnis massiv beeinflusst.

Ein Beispiel:
Partei A erhält 33 % der Stimmen, Partei B 29 % und Partei C 25 %, Partei D die restlichen 13 %. Der Einfachheit halber verzichte ich auf Parteien, die an der 5 %-Hürde scheitern sowie auf ungültige Stimmen, die selbstverständlich auch Auswirkungen auf das Ergebnis haben.

Wenn die Wahlbeteiligung bei 100 % liegt, dann stimmt das Wahlergebnis mit dem Wählerwillen überein. Berücksichtigen müsste man in dem Fall allerdings, dass Menschen keine Stimme haben, auch wenn sie (dauerhaft) in Österreich leben, z.B. wenn sie jünger als das Mindestwahlalter oder keine österreichischen Staatsbürger (Ausnahmen dazu gibt es auf Gemeindeebene) sind.

Sinkt die Wahlbeteiligung auf 90 %, dann wären 10 % der Bevölkerung nicht mehr vertreten und die Ergebnisse der Parteien relativierten sich wie folgt: Partei A hätte dann nur noch 29,7 %, Partei B 26,1 %, Partei C 22,5 und Partei D 11,7 %.

Zu kippen beginnt diese Systematik dann tatsächlich, wenn ein Drittel der potentiellen Wähler nicht zur Urne schreitet. Denn dann wären die Nichtwähler mit 33 % in der Mehrheit und werden de facto in der nächsten Legislaturperiode in der Volksvertretung nicht repräsentiert. Die Ergebnisse der Parteien ändern sich in diesem Fall so: Partei A käme nur noch auf 22 %, Partei B auf 19,3 %, Partei C auf 16,7 % und Partei D auf 8,7 %.

Da die zuletzt angestellten Berechnungen aber zum Normalfall geworden sind, ist die stärkste „Wählergruppe“, nämlich die Nichtwähler, nicht mehr in der jeweiligen Volksvertretung repräsentiert. Das hat enorme Auswirkungen auf das politische Geschehen, die es bewusst zu machen gilt.

Es gibt viele Gründe, sein Stimmrecht nicht zu gebrauchen. Ich zähle hier einige Argumente auf, die ich in diesem Zusammenhang immer wieder höre: die Wahl nur zwischen Pest und Cholera; keine Partei vertritt meine Anliegen (vollständig); es ist alles nur ein großes Kasperltheater; die Politiker sollen machen, was sie wollen, ich mache mein Ding; es ändert sich ja doch nichts; wenn ich meine Stimme abgebe, dann habe ich fünf Jahre lang keine Stimme mehr; die machen doch eh nur, was sie wollen; etc.

Gut nachvollziehen kann ich diese Aussagen, sie beschreiben Symptome, an denen unser demokratisches System krankt. Die Ursachen liegen tiefer und lassen sich keinesfalls mit Nichtwählen beheben. Im Gegenteil. Wer sein Stimmrecht nicht nutzt, trägt – so paradox das im ersten Moment klingt – dazu bei, dass sich das bestehende System verfestigt.

Machen wir – bevor wir uns der Ursachenforschung widmen – noch folgendes Gedankenexperiment:
Zur Nationalratswahl 2024 gehen nur noch die 1500 Kandidaten der elf zur Wahl stehenden Parteien. Alle anderen Wahlberechtigten haben die Schnauze voll und sagen dem aktuellen System adé. Dennoch kommt ein Wahlergebnis zu Stande, das für jede dieser Parteien Stimmen und damit Sitze im österreichischen Parlament bringt. De facto vertreten die auf diese Weise gewählten „Volksvertreter“ dann nur ihre eigenen Interessen bzw. jene ihrer Parteien. Alle anderen blieben außen vor.

Aber ist das nicht ohnehin so, auch wenn alle zur Wahl gingen?
Diesen Einwand darf man keinesfalls unbeachtet lassen, weil er ein Kernproblem der repräsentativen Demokratie aufzeigt. Sobald ein Abgeordneter angelobt ist, ist er nur noch seinem Gewissen – nicht aber seinen Wählern – verpflichtet. Und mit dem Gewissen ist das so eine Sache. Es gibt nämlich jede Menge Einflüsterer, die diesen ständig ins Gewissen reden, so dass sie vergessen, dass sie auf die Stimme des Volkes hören sollten. Ein Volksvertreter sollte sich mit seinem Abstimmungsverhalten aber an jenen orientieren, für die er spricht.

Und damit sind wir bei einem weiteren Knackpunkt unserer Art zu wählen bzw. abzustimmen: Es herrscht das Mehrheitsprinzip. 50 % + eine Stimme genügen, um das Anliegen durchzusetzen. Die anderen knapp 50 % sind damit in der Minderheit und schauen durch die Finger. Selbst wenn ein Abgeordneter in seinem Wahlkreis vor jedem Beschluss die Meinung der von ihm repräsentierten Bevölkerung erfragt und sich an diesem Ergebnis orientieren würde, würde er im oben beschriebenen Extremfall fast die Hälfte derer desavouieren.

Das sind also zwei Fehler im System, die repariert werden müssen.

Zum Schluss meiner Analyse möchte ich noch auf einen menschlichen Makel hinweisen, den Lord Acton 1887 in einem Briefwechsel mit Bischof Creighton so beschrieben hat: „Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely .“ (dt.: Macht neigt dazu, zu korrumpieren und uneingeschränkte Macht korrumpiert uneingeschränkt.) Wir Bürger aber haben es in der Hand, die Macht der Mächtigen so einzuschränken, dass sie sich ihrer Aufgaben bewusst werden.

Demokratie ist wie alle von Menschen geschaffenen Gebilde jederzeit durch Menschen änderbar. Aufgrund der oben beschriebenen Symptome ist die Weiterentwicklung der Demokratie eine dringend nötige Aufgabe. Es ist daher von größter Bedeutung, dem Bestehenden nicht den Rücken zu kehren, sondern an diesem notwendigen Wandel mitzuwirken.
Wie wäre es mit: Wählen gehen und den Abgeordneten laufend ins Gewissen reden? Denn: Urnengänge sind eine Möglichkeit, Veränderungen einzuleiten, die es auch im aktuellen System gibt. Bei diesmal elf zur Wahl stehenden Parteien, sollte es doch eine geben, die das vertritt, was meinen Interessen entspricht oder sich ihnen großteils annähert.

 

In der nächsten Woche:
Die Möglichkeiten, seine Stimme abzugeben und was dabei zu beachten ist.

 

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