FreiSein für natürliches Lernen
Kommentar zum Beitrag „Giraffenschule – lebensbereicherndes Lernen“
Wir müssten es längst alle besser wissen – einerseits aus der eigenen Erfahrung, andererseits aus den Erkenntnissen von Fachleuten fürs Lernen wie Marshall B. Rosenberg, André und Bertrand Stern, Jesper Juul oder Gerald Hüther. Ja, sogar von Manfred Spitzer können wir diesbezüglich viel erfahren.
Kurz gesagt: Es gibt das natürliche Lernen, das dem Menschen angeboren ist, und das schulische Lernen, das ihm aufgezwungen wird. Ersteres ist durch die unendliche Neugier angetrieben, die zu einem beständigen Forschen und Entwickeln führt. Letzteres führt dazu, dass (junge) Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt ein durch einen Lehrplan vorgegebenes Wissen von sich geben müssen und es danach umgehend wieder vergessen – außer es hat ihre Interessen berührt. Was Marshall Rosenberg mit dem Bild der Milchflaschen beschreibt, nennt Bertrand Stern Bulimielernen. Vor einer Prüfung möglichst viel vom meist als unnütz erlebten Wissen hineinstopfen und es bei der Prüfung dann möglichst vollständig auskotzen. Das gelingt den einen besser, den anderen schlechter. Die einen bekommen gute Noten, erhalten Zeugnisse als Qualifikationsnachweis, die ihnen den Weg in einen gut bezahlten Job ebnen. Die anderen liegen unter dem Durchschnitt oder werden gar zu Schulversagern und können oft nur das tun, was in der Gesellschaft als unterbezahlte Hilfsarbeit gilt. Funktionieren müssen beide, um ihre Existenz zu verdienen.
Das alles hat aber nichts mit Beruf(ung) zu tun. Und auch nichts mit Kompetenz. Oder dem, was in einem Menschen steckt und auf Entfaltung wartet. Unsere Gesellschaft verzichtet damit großspurig auf Weiterentwicklung. „Man kann Probleme nicht auf derselben Ebene lösen, auf der sie entstanden sind,“ soll Albert Einstein gesagt haben. Und so schaut die Welt auch aus.
Ganz anders an die Sache gehen – gerade auch durch die Impulse der Corona-Zeit – viele Lerninitiativen heran, die sich das Wissen und die Erfahrung der oben genannten Fachleute wirklich zu Herzen nehmen. Sie nutzen den natürlichen Lerndrang der jungen Menschen, schenken ihnen, ihren Begabungen und Talenten die nötige Aufmerksamkeit, lassen sie ihren Interessen folgen und organisieren alles, was nötig ist, damit sie ihrem selbstbestimmten Bildungsweg folgen können. Die Haltung all jener, die auf diese Weise vorgehen, den Heranwachsenden gegenüber, ist eine partnerschaftliche, auf Augenhöhe befindliche. Kinder und Jugendliche werden als Subjekte begriffen und nicht als Objekte, an denen es herum zu doktern gilt, bis sie ins System passen, sie werden als – wie Jesper Juul es ausdrückt – „gleichwürdig“ betrachtet.
Wenn man all diese Ansätze zu Ende denkt, entsteht das Bild einer bunten, vielfältigen und lebenswerten Welt, in der Menschen in der Lage sind, selbst die größten Herausforderungen des Lebens mutig und kreativ zu lösen. Weil man ihnen die Möglichkeit gegeben hat, im Sinne von Marshall Rosenberg zu „Giraffen“ mit einem großen Herzen zu werden.