FreiSein durch Selbstausdruck
Arno Stern ist verstorben. Eine Woche nach seinem hundertsten Geburtstag endete das Leben des Begründers des „Malortes“ am 30. Juni dieses Jahres.
Arno Stern? Noch nie gehört.
Das mag wohl auch daran liegen, dass der in Wikipedia als „Pädagoge und Forscher“ Titulierte in keine der klassischen Schubladen passte.
Persönlich kennenlernen durfte ich ihn vor einigen Jahren in einem von seinem Sohn André organisierten Online-Vortrag; er imponierte, schon hochbetagt, durch seine Ausstrahlung und seine Authentizität. Er war gleichsam das, was er berichtete, worüber er sprach, das Feuer für seine Ideen, die im Dienst an den Menschen und in der Erforschung der „Ausdruckssemiologie“ ihre Erfüllung fanden.
Über ihn erfuhr ich auch schon vorher eine Menge durch meinen Kontakt mit seinen beiden Söhnen, dem freischaffenden Philosophen und Begründer des Frei-Sich-Bildens Bertrand und dessen Halbbruder André, der Vielbegabte, der niemals in der Schule war und auch heute noch mit seinen Vorträgen und Workshops seine diesbezüglichen Erfahrungen und Erkenntnisse betreffend, jungen Menschen den ihnen zustehenden Platz im Leben und in der Welt ebnen und Eltern Lust auf „schul-freie“ Bildungswege für ihren Nachwuchs machen möchte.
Beginnen wir mit einem kurzen Abriss seines langen Lebens.
Kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs nahm Arno Stern zweiundzwanzigjährig eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen in Paris an. Dorthin war er nach dem Ausbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus in seinem Geburtsland Deutschland geflohen und nach einem Exil in der Schweiz während der Kriegsjahre wieder zurück gekehrt.
Seine Begeisterung fürs Zeichnen stellte er den jungen Menschen zur Verfügung, er organisierte Papier und Zeichenutensilien und ließ sie malen. In der Beobachtung dieses kreativen Prozesses entdeckte er dessen heilsame Kraft.
Wenige Jahre später richtete er im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés ein Malatelier für Kinder ein, das er 33 Jahre lang unter dem Namen „Académie du Jeudi“ betrieb, danach an einen zentraleren Ort in der französischen Hauptstadt verlegte und in „Closlieu“ umbenannte. Im Deutschen gab er diesem Refugium den Namen „Malort“.
Während seiner Arbeit, die in der Begleitung von jungen Menschen und Erwachsenen an diesem Malort und an anderen Plätzen – etwa von ihm eingerichtete Ateliers in Krankenhäusern – lag und seiner Aufenthalte in Mauretanien, Peru, Niger, Mexiko, Afghanistan, Äthiopien, Guatemala sowie Neu-Guinea sammelte er zahlreiche Erkenntnisse, die in seine Erforschung der Ausdruckssemiologie einflossen.
Die Semiologie im Allgemeinen beschäftigt sich mit „Zeichensystemen aller Art (zum Beispiel: Bilderschrift, Gestik, Formeln, Sprache, Verkehrszeichen) und versucht, sie zu beschreiben und zu erklären.“
Der Malort ist ein fremdes Land – ein Traumland
Auf der Website von Arno Stern heißt es unter dem Titel „Der Malort ist ein fremdes Land – ein Traumland“ unter anderem:
„Aus seinen Wänden strahlt der farbige Widerhall von vielem Erlebten in den Raum. Endlos folgte auf diesen Wänden ein Blatt dem andern: spurenreich angefüllte durch unberührt weiße ersetzt. Welten entstanden in ihnen – grenzenlos, dem Sehnen nach Unendlichkeit angemessen, das sich nur in diesem Geborgensein ausleben kann.“
Im „Closlieu“ geht es nicht um die Bewertung eines von einem dort „Zuflucht“ suchenden Menschen entstandenen Werkes; jedes dieser dort geschaffenen Bilder hat per se einen unschätzbaren Wert, weil es Zeichen eines tiefen Selbstausdrucks ist, der so sein darf, wie er ist und sich auch jeglicher Interpretation durch Außenstehende oder den Schöpfer selbst entzieht. Allein durch den Schaffensprozess entsteht dessen Wirksamkeit.
Arno Stern beschreibt das mit folgenden Worten:
„Eines Tages ist mir aufgefallen, daß im Malort nichts Ähnliches wie zu Hause, wie in der Schule oder in der Psychologenpraxis entsteht. Anfangs glaubte ich, es läge an der außergewöhnlichen Qualität der Werkzeuge, die ich den Kindern gab, während sie sonstwo mühsam ein bißchen verwässerte Farbe dem Malkasten abzugewinnen versuchten. Aber daran lag es nicht in erster Linie, sondern an der grundlegend verschiedenen Einstellung zum Malenden. Deshalb entstand hier eine nie zuvor geschehene Äußerung.“
Diese Einstellung dem Malenden gegenüber zeigt sich in der Tatsache, dass sich jene, die einen Malort einrichten und betreiben, als Dienende verstehen. Sie sind es, die jene Rahmenbedingungen schaffen, die es braucht, um die von Stern als „Formulation“ bezeichnete Tätigkeit auszuüben.
Ein Malort-Dienender kann sich „in jedem Moment in die Lage aller versetzen, die hier spielen; dafür sorgen, daß sie durch nichts vom Wesentlichen abgelenkt werden; ihnen jede unnötige Mühe ersparen; sie vor jeder materiellen Besorgnis entlasten.“ Dieses Bedientwerden führt aber nicht in die Abhängigkeit, sondern ist vielmehr ein Beglückt-Werden.
Außerdem hat es zur Folge, „daß das Geschehen im Malort zu einem wichtigen, schätzenswerten Ereignis wird.“ Das Beglückt-Werden ist aber auch eine Erfahrung, die der Dienende macht. Um sich in diesen Dienst zu stellen, kann man sich an fünf Wochenenden dazu ausbilden lassen.
Als Bedingungen für das Ausüben der Formulation gelten:
- ein vor Druck und Beeinflussung schützender Raum;
- die Gegenwart anderer; nicht als Zuschauer, sondern als Spielgefährten deren zustimmende Einstellung zufolge hat, daß die Äußerung zur Normalität und zur Nicht-Kommunikation wird und
- die Gegenwart des Dienenden, der weder als Vorbild noch als Empfänger der Äußerung erscheint.
Das „Ausüben der Formulation“ ist weder künstlerisches Schaffen noch therapeutisches Geschehen.
Die Wirkung dieses Vorgangs wird so beschrieben:
„In diesem Spiel, das jedem leicht fällt, dem Großen wie dem Kleinen, entwickeln sich auch ein außergewöhnliches Können und das Bewußtsein ungeahnter Fähigkeiten.
Die Praxis der Formulation befreit von der beigebrachten Abhängigkeit von Vorbildern und von Begutachtung.
Derjenige, der sich durch dieses Spiel entfaltet, gebraucht keine Gewalt als Bestätigung, keine Drogen als Trost und Linderung. Die Tat des Formulierens ist lebenswichtig. Im Rahmen des Malortes fördert sie gleichzeitig das Selbstbewußtsein und die Beziehung zu anderen, in einem harmonischen, wettkampflosen, nirgendwo erreichten Gleichgewicht.“
Worte wie diese sind unserem Leben bisweilen so fremd, dass sie unverstanden bleiben. In einer Welt, in der nur all das einen Wert zu haben scheint, was funktionstüchtig und ergebnisorientiert ist, klingen Perspektiven wie jene von Arno Stern weltfremd, ja utopisch. Sie sind aber andererseits so notwendig, weil sie uns den Weg zum wahren und gesunden Menschsein zeigen und dieser Welt damit enorm zugute kommen, sie zu dem zu wandeln im Stande sind, damit sie zu einem wahren Platz für das Gute, Wahre und Schöne wird, in der alle das vorfinden, was sie zum Leben brauchen.
Oder wie es auf der Website von Arno Stern heißt:
„Wer zu dieser Äußerung kommt, sich von allen Vorbildern und Vorstellungen befreit, hemmungslos die natürliche Spur entstehen läßt, kehrt zu seinem wahren Wesen zurück. Das Formulationsspiel im Malort ist keine Therapie, sondern eben Therapie-vorbeugend, weil es Fähigkeiten fördert, die zur Entfaltung und Stärkung der Persönlichkeit führen.“
Arno Stern ist zwar von uns gegangen, sein Wirken aber wird die Welt für immer bereichern.
Weiter Informationen zu Arno Stern und seinem Wirken:
https://www.youtube.com/@arnostern
https://arnostern.com/?lang=de
https://www.arnostern-film.ch/
https://www.malort-wien.at/