Die (Un)Endlichkeit des Lebens

Grabstein, Allerseelen

FreiSein durch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

 

Wenn der Herbst unverkennbar ins Land zieht, die Tage immer kürzer und die Nächte immer länger werden, dann schleicht sich bei so manchem eine gewisse Müdigkeit, ja auch Traurigkeit und im schlimmsten Fall depressive Verstimmung oder gar eine handfeste Depression ein.
Unsere moderne, technisierte Welt nimmt darauf keine Rücksicht. Elektrisches Licht, Heizung, Unterhaltungsindustrie und die Notwendigkeit, regelmäßig einer Erwerbsarbeit nachzugehen, um (über)leben zu können sind Gründe, dass der Wechsel vom Sommer zum Winter zwar immer noch mit dem einen oder anderen Nachteil einhergeht, uns aber auch die Möglichkeit nimmt, über diesen Übergang im Leben tiefer nachzusinnen. Es gab Zeiten, in denen es noch nicht so war. Und in diesen Zeiten entstanden Rituale und Feiertage, die es ermöglichten, auch das Ende des Lebens und damit das Leben selbst wahrzunehmen und zu reflektieren.

Das keltische Samhainfest, das unsere Konsumgesellschaft auf ein umsatzträchtiges Halloween reduziert hat, oder der christliche Allerseelentag, an dem laut katholischer Lehre der Seelen verstorbener Gläubiger gedacht wird, um diese mittels Ablass aus dem Fegefeuer zu befreien, sind Zeugen eines Bewusstseins, dass das Ende des Lebens und den Tod nicht verleugnet – wenn auch aus ganz unterschiedlicher Intension. Mit ihnen war ebenso der Glaube an ein weiteres, ewiges Leben nach dem Sterben verbunden.

Das Ende seiner Existenz ist dem vernunftbegabten Homo sapiens sapiens mehr als ein Dorn im Auge, es muss im „Idealfall“ so weit wie möglich hinausgeschoben oder sogar überwunden werden. Der Jenseitsglaube soll aus der Sicht so manches Technokraten Schritt für Schritt durch den Transhumanismus ersetzt werden, in dem Mensch und Maschine verschmelzen und der menschliche Geist in die Lage versetzt wird, ganz ohne Körper zu überdauern. Mit dem Übersteigen der Menschlichkeit wird aber auch die Menschlichkeit selbst begraben – und das im doppelten Wortsinn. Es gibt kaum unmenschlichere Wesen als jene, die diese Ideen befeuern.

Was also tun mit der Tatsache, dass wir alle Todgeweihte sind?

Die Verdrängung holt einen spät aber doch ein, vielleicht zu spät, um sich mit dem Tod zu versöhnen; die ständige Todesfurcht als anderes Extrem aber verunmöglicht Leben. Was helfen kann, ist ein regelmäßiges „memento mori“; mit diesem Bewusstsein der Sterblichkeit lässt sich paradoxerweise das Leben erst so richtig leben. Denn – wie die Psychologie herausgefunden hat: Die Angst vor dem Tod ist letztendlich eine Angst vor dem Leben.

Der vor einem Jahr im 77. Lebensjahr verstorbene deutsche Fernsehmoderator, Journalist und Publizist Hans Christian Meiser, der vor seiner TV-Karriere in München Philosophie, Psychologie und Kunstinterpretation studierte und promovierte, hat in seinem 2014 erschienenen Buch „Als wär’s das letzte Mal“ 24 Anregungen „für ein todesmutiges Leben“ gegeben. Ausgehend von den Fragen „Was ist wichtig“ und „Was ist Ihnen wirklich wichtig in Ihrem Leben?“ leitet er die Leser an, „eingehend über das Leben und seine Endlichkeit nachzudenken und den Wert dessen, was man vorübergehend besitzt, (wert)schätzen zu lernen.“ Zitate, Gedichte und Lebensweisheiten bekannter Dichter und Denker geben einen Einblick in die Tatsache, dass wir Menschen am Tod nicht vorbeikommen.

Egal ob wir uns ans Leben klammern und um jeden Preis, auch auf Kosten anderer, ein „gutes“ Leben führen wollen, oder uns durch die Herausforderungen und Unsäglichkeiten des Lebens kämpfen, in der Hoffnung, nach dem Tod dafür in einem Jenseits oder einem weiteren Leben belohnt zu werden, wir kommen nicht umhin, dem Tod ins Auge zu schauen.

Die Wirkung, die sich daraus ergeben kann, ist eine durchaus politische: Wenn wir davon ausgehen, dass wir sterblich sind – und das müssen wir, weil es eine Realität ist, die wir nicht verweigern dürfen –, dann ist es doch naheliegend, dass wir uns und allen anderen ein schönes Leben bereiten. Der Wahnsinn der Welt, der uns tagtäglich umgibt, wäre mit einem Mal zu Ende, denn gemeinsam arbeiteten wir daran, die Welt besser zu machen. So meine Vision, die manch einer als unrealisierbare Utopie abtun wird. Ihr zu folgen aber ist eine dringende Not-wendigkeit. Und deren Umsetzung kann direkt im eigenen Umfeld, ganz im Kleinen und zwar sofort begonnen werden. Einzige Voraussetzung ist es, sich mit der unumstößlichen Tatsache anzufreunden, dass dieses mir – aus welchen Gründen auch immer – geschenkte Leben eines fernen oder doch auch nahen Tages ein Ende haben wird.

Abschließend fällt mir zum Thema noch eine Zeile aus einem Gedicht des amerikanischen Poeten Robert Frost mit dem Titel „The Road Not Taken“ ein, das ich sehr passend finde. Darin schreibt er:

Two roads diverges in a wood, and I –
I took the one less travelled by,
And that has made all the difference.

Wenn es uns gelingt, den aktuell noch wenig begangenen oder gar gemiedenen Weg des Todesbewusstseins mit seinen letztlich so positiven Folgen für einen selbst und die Welt wählen, dann werden wir mit Sicherheit reichlich belohnt – und das schon in diesem Leben.

 

Buchtipp:
 Hans Christian Meiser, Als wär’s das letzte Mal, ISBN 978-3-424-15244-9
Das Buch ist derzeit allerdings nur noch antiquarisch zu haben.

 

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