FreiSein mit Mut zu Wahrheit und Pazifismus
„Vieles von dem, was Kraus schrieb, trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene.“ (Jonathan Franzen, Schriftsteller)
Karl Kraus (1874–1936) hätte am 28. April seinen 150. Geburtstag gefeiert. Mit diesem Artikel wollen wir ihm den gebührenden Respekt zollen, den dieser Pazifist, Wahrheitssuchende und Aufdecker verdient hat.
Kraus war österreichischer Publizist, Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ und als Satiriker der schreibende Unruhestifter seiner Zeit.
„Hinter Karl Kraus steht keine Religion, kein System, keine Partei, hinter Karl Kraus steht immer wieder immer nur Karl Kraus.“ (Hans Weigel, Schriftsteller)
DIE FACKEL: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“
1899 veröffentlichte der 25jährige Karl Kraus die erste Ausgabe seiner Zeitschrift „Die Fackel“. Das rote Heftchen, das manches Mal sogar Buchdicke erreichte, wurde legendär, auch über die Landesgrenzen hinaus. Es erschien insgesamt 37 Jahre lang, ab 1904 „in zwangloser Folge“, bis wenige Wochen vor seinem Tod.
Kraus selbst kündigte seine Fackel folgendermaßen an: „Diese Zeitschrift wird in der aus früheren Schriften des Herausgebers bekannten scharf satirischen und polemischen Art an den Ereignissen der Politik und Volkswirtschaft, des Theaters, der Gesellschaft, Literatur und Kunst schneidige Kritik üben und namentlich das vielgestaltige Cliquenwesen Wiens rücksichtslos bekämpfen.“ (Fackel: Beilage zu Heft 5/1899)
Heute würde man das Magazin als alternatives Medium bezeichnen, um – so Kraus – „Tatsachen wiederzugeben“, was die Massenmedien seiner Ansicht nach verabsäumten.
Unbeirrbar folgte Karl Kraus seiner Wahrheit, wurde zensiert und denunziert, gewann und verlor Freunde und Bewunderer. Im Mai 1899 wurde er von einem Mann, einem entmündigten Stückeschreiber, in dem sich „Schwachsinn und Körperkraft glücklich gepaart fanden“ (Fackel 5/1899) blutig geschlagen, der von Theaterkritikern angeheuert wurde, weil ihnen die Aufdeckungen in einem Artikel wohl nicht gefallen hatten.
In der darauffolgenden Ausgabe seiner Fackel versprach Kraus, „dass ich mich durch die körperliche Revanche, die mir widerfahren, in der ferneren Bekämpfung eines das arme Geistesleben unserer Stadt und unseres Landes erdrückenden Journalistenringes nicht beirren lassen werde“. (Fackel 5/1899)
In Heft 9 veröffentlichte Kraus dann einen „Rechenschaftsbericht“: „Mit diesem Hefte schließt das I. Quartal der ‚Fackel‘. Anonyme Schmähbriefe 236, Drohbriefe 83, Überfälle 1.“ (Fackel 9/1899)
Kraus’ Weitsicht war erstaunlich. Sie resultierte aus jenen Eigenschaften, die einen hervorragenden Journalisten ausmachen – ein gutes Gespür, eine unstillbare Neugierde und eine sorgfältige und schier rastlose Suche nach der Wahrheit bei unterschiedlichsten Quellen.
So deckte Kraus Korruption und Vetternwirtschaft in verschiedensten beruflichen und kulturellen Branchen auf, aber auch die Meinungsbeeinflussung durch die von ihm so genannte „Journaille“. „Den Leuten ein X für ein U vorzumachen – wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugibt?1“
Aber Kraus wurde auch außerhalb seiner Fackel aktiv. 1927 übermittelte er dem Polizeipräsidenten nach der gewaltsamen Niederschlagung einer Demonstration über Plakate, die er in der Wiener Innenstadt anbringen ließ, eine Botschaft: „An den Polizeipräsidenten von Wien, Johannes Schober. Ich fordere Sie auf, zurückzutreten. Karl Kraus, Herausgeber der Fackel.1“
„Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.1“
UNTERGANG DER WELT DURCH SCHWARZE MAGIE: „Warum schreibt einer? Weil er nicht genug Charakter hat, nicht zu schreiben.“
Was Kraus besonders verabscheute, das waren die Lügen und Manipulationen der Presse – und schlechtes Deutsch, Druck- und Rechtschreibfehler. Er prozessierte sogar einmal gegen eine Zeitung, als diese einen Beistrich falsch gesetzt hatte.
Er „besaß eine enorm gesteigerte Fähigkeit, die verlogenen Tonfälle, seien sie gesprochen oder geschrieben, wie Krankheitssymptome in einer Art Hör- und Lesens-Diagnostik aufzuspüren, und die gelang ihm bei der Sprache der Werbung genauso gut wie bei der Sprache der Politiker, der Schriftsteller, der Journalisten. Kraus war der Sherlock Holmes der Phrasenverbrechen2,“ beschreibt sein Biograph Jens Malte Fischer seine detektivischen Fähigkeiten in Bezug auf Lügen und Propaganda.
Druckfehler können zur Gefahr werden – das erkannte Kraus ganz deutlich – vor allem, wenn sie vorgeblich und beabsichtigt getippt werden. Diese von ihm so genannte Druckfehlerhölle „bezeichnet die Gefährlichkeit dieses Handwerks“3, der Presse.
„Meine Weltanschauung kann Gottseidank durch einen Druckfehler zerstört werden!“ (Fackel 241/1908)
In seinem Gedicht „Das Lied von der Presse“ schrieb er:
Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
[…]
Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr läßt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.1
In seinem Werk „Untergang der Welt durch Schwarze Magie“ – nämlich die Presse mit ihrer Druckerschwärze – belegt Kraus durch Fallbeispiele deren Fehlbarkeit, wie etwa deren Bestechlichkeit durch die Wirtschaft.
Sein besonderer Kampf galt der Phrase. „In den Redaktionen und Ämtern, in denen kein Gedanke zur Tat drängt, entspringen die bedenklichsten Anregungen aus der Phrase.3“
Die Gefahr der Phrase durch die Presse erkannte Kraus in der stetigen Wiederholung, sodass die Leser abgestumpft und deren Meinungen dadurch manipulierbar werden. Phrasen bilden Meinungen, und allein schon der Ausdruck „öffentliche Meinung“ war Kraus ein Graus, denn Meinungen seien Privatsache2. Die Phrase war und ist ein effektives „Sprachrohr der Mächtigen in Politik und Wirtschaft2“.
Auch heute noch werden wir mit Phrasen überschüttet, wie Klimawandel, Nachhaltigkeit, Fake News oder Faktenchecker.
In „Untergang der Welt durch die schwarze Magie“ heißt es: „In einer Welt, die betrogen wird, glaubt Österreich am längsten. Es ist das willigste Opfer der Publizität, indem es nicht nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses gedruckt sieht.3“
DRUCKERSCHWÄRZE UND TECHNIK – UND DEREN BEITRAG ZUM WELTKRIEG:
„Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“
Die gedankliche Beeinflussbarkeit der Menschen nutzten die Medien aus, um den Kriegswahnsinn unsichtbar zu machen und durch Kriegspropaganda zu ersetzen. In der Presse, „die unter dem ruchlosen Vorwand der Preßfreiheit das Volk in den Tod lügt“ (Fackel 514-518/1919) sah Kraus die wahren Kriegstreiber für den Ersten Weltkrieg. Durch Kriegsverherrlichung, und -verharmlosung gemeinsam mit der Steigerung patriotischer Stimmung wurde in der Bevölkerung Kriegsbegeisterung geschürt. Der Auslöser allein, die Ermordung des Thronfolger-Kaiserpaares in Sarajevo, hätte zweifellos nicht zu dieser euphorischen Kriegsstimmung geführt, denn „Franz Ferdinand war wohl eine der ungeliebtesten Persönlichkeiten Österreich-Ungarns2“. Auch das staatlich bewusst organisierte „Thronfolgerbegräbnis dritter Klasse4“ war ein dahingehend deutliches Zeichen.
Von der Presse wurde der Krieg jedoch als notwendig übermittelt, durch beschönigte und verdrehte Darstellungen die Bevölkerung kriegstüchtig gelogen. Die Verlustlisten etwa wurden anfangs unerschrocken, im festen Glauben an den eigenen schnellen Sieg, veröffentlicht, wobei nicht einmal unterschieden wurde zwischen tot und verwundet. Im letzten Kriegsjahr hingegen war von solchen Listen in den Zeitungen nichts mehr zu finden.
Im Annoncenteil priesen Firmen ihre „Siegeshemden“, warme Kleidung für das Schlachtfeld und zahlreiche „Liebesgaben“ (das sind jene, die von zu Hause an die Lieben ins Feld geschickt werden) an.
Karl Kraus – untauglich und unwillig zu töten – kämpfte in diesem Krieg gegen den Krieg selbst, bewaffnet mit seiner „Fackel“. Er schrieb dazu einen seiner bekanntesten Aufsätze „In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; […] in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht; […] in dieser Zeit mögen sie von mir kein eigenes Wort erwarten, keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt […] Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!5“
Kraus schwieg nicht. Der Biograph Jens Malte Fischer fasst dessen Standpunkt gegenüber der Presse in einem Satz sehr gut zusammen: „Und so wie Kraus der unverrückbaren Meinung war, dass ohne die Presse der Weltkrieg zumindest so nicht stattgefunden hätte, so war er auch später der Meinung, dass nicht der Nationalsozialismus die Presse abgeschafft habe, sondern die Presse den Nationalsozialismus erst erschaffen habe.2“
Ein weiterer Gehilfe der Kriegstreiberei und des „geistigen Tiefstand, der diese Katastrophe ermöglicht hat und dessen Vertiefung durch eben diese Katastrophe ausgebaut wurde“ (Fackel 474-483/1918) war für Kraus die neue Technik, die das Menschentöten erleichterte, vor allem, da die Technik „den gesunden Menschenverstand […], der komplett versagt, weil er zu recht eigentlich krank ist, nämlich von der medialen Verdummungsmaschinerie imprägniert, die damals vor allem von der Presse und der Verlautbarungskoalition von Staat und Militär repräsentiert wurde2“, überflügelt zu haben schien.
„Die Seele ist von der Technik enteignet. Das hat uns schwach und kriegerisch gemacht. Wie führen wir Krieg? Indem wir die alten Gefühle an die Technik wenden.“ (Fackel 445-453/1917)
In „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ schrieb Kraus: „Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen.3“
DAS ENDE DES WELTKRIEGS UND DIE FEHLENDE AUFARBEITUNG: „Österreich hat kein Gedächtnis.“
Zum Ende des Weltkrieges gab es von Kraus nicht weniger scharfe Worte zu einer neuen Phrase: „Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht beendet, sondern unterlassen.“ (Fackel 474-483/1918)
Was er stets befürchtet hatte und wobei ihm die Zeit nach Ende des Krieges recht gab, war die ausbleibende Aufarbeitung. „Denn über alle Schmach des Krieges geht die der Menschen, von ihm nichts mehr wissen zu wollen, indem sie zwar ertragen, daß er ist, aber nicht, daß er war. […] Denn daß Krieg sein wird, erscheint denen am wenigsten unfaßbar, welchen die Parole ‚Jetzt ist Krieg‘ jede Ehrlosigkeit ermöglicht und gedeckt hat, aber die Mahnung ‚Jetzt war Krieg!‘ die wohlverdiente Ruhe der Überlebenden stört.4“
„Aber ihr habt doch gestern noch –? Mit solchem Vorhalt verschone man die stolze österreichische Bewusstlosigkeit, die weiß, was sie tut, wenn sie vergisst, was sie getan hat. […] Nicht daß die österreichischen Ereignisse keinen Grund haben, aber daß sie keine Konsequenzen haben, ist trostlos. Es geschieht so viel, und es geschieht nichts: das ist die österreichische Geschichte.3“
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT: „Das Ende, bis zu dem wir durchhielten, war unentrinnbar, und statt des Mutes, es durch Niederlagen zu beschleunigen, hatten wir die Dummheit, es durch Siege aufzuhalten.“
Im Juli 1915 begann Karl Kraus sein berühmtes, wie er selbst sagte „heldenloses“ Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“. „Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene [Jahre des Krieges]. Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. Außer ihm, der die Schmach solchen Anteils einer Nachwelt preisgibt, hat kein anderer ein Recht auf diesen Humor. Die Mitwelt, die geduldet hat, daß die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht zu lachen, hinter die Pflicht, zu weinen.4“
Am Ende dieses monumentalen Werkes vergab er das Wort „Held“ doch noch an jemanden, an die Menschheit: „Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist.4“
„Woher bezieht Kraus sein Material für diese satirische Tragikomödie? Aus der materialen Realität, will sagen aus österreichischen und deutschen Presseerzeugnissen, aus Verlautbarungen der Kriegspressequartiere, aus Anschlägen an Litfasssäulen, aus Reklameanzeigen, auch aus der Presse der Länder, die Kriegsgegner der Mittelmächte waren.2“
„Es ist die tragische Bestimmung meiner Figuren, das sprechen zu müssen, was sie selbst geschrieben haben und so auf eine Nachwelt zu kommen, die sie sich ganz anders vorgestellt haben. Mein Verdienst besteht nicht darin, irgendetwas erfunden zu haben, sondern darin, daß man glaubt, ich müsse es erfunden haben, weil man nicht glaubt, daß man es erlebt haben könne.4“
„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.4“
Das große Drama ist eine Art Dokumentation wahrer Ereignisse in 220 Szenen und in Form von Gesprächen, großteils in Wienerischer Mundart, in zeitlicher Abfolge und damit von historischer Bedeutung. Für „Die letzten Tage der Menschheit“ wurde Karl Kraus sogar mehrfach für den Literaturnobelpreis und 1930 für den Friedensnobelpreis nominiert. Elisas Canetti nannte 1981, als er den Literaturnobelpreis erhielt, Karl Kraus als einen von vier Schriftstellern, die sich den Preis verdient hätten, ihn aber nie erhalten haben. Er bezeichnete Kraus als „den größten Satiriker deutscher Sprache, der ihm das Hören beigebracht und ihn gegen den Krieg ein für alle Mal immun gemacht habe.2“
DIE DRITTE WALPURGISNACHT: „Nichts hat sich geändert, höchstens, dass man es nicht sagen darf.“
„Mir fällt zu Hitler nichts ein,“ begann Kraus sein Werk „Die dritte Walpurgisnacht“. Danach fiel ihm auf fast 400 Seiten doch noch so einiges zu Hitler ein.
Kraus wollte mit diesen einleitenden Worten erklären, dass nichts, was er in seiner sonst üblichen aufrüttelnden Art ausdrücken könnte, dieses unfassbare und in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Unrecht, das im Nachbarland Deutschland bereits im Gang war, beschreiben könnte. Ebenso dachte Kraus, sei seine Sprachkritik nicht gewaltig genug, es aufzuhalten, was er in einem kurzen Gedicht in der Fackel (Fackel 888/1933) zu vermitteln versuchte, über das der Dramatiker Bertolt Brecht selbst ein sehr umfangreiches Gedicht schrieb:
Als das Dritte Reich gegründet war
kam von dem Beredten nur eine kleine Botschaft.
In einem zehnzeiligen Gedicht
erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen
daß sie nicht ausreiche.
[…]
Als der Beredte sich entschuldigte
daß seine Stimme versage
trat das Schweigen vor den Richtertisch
nahm das Tuch vom Antlitz und
gab sich zu erkennen als Zeuge6.
Doch ganz schwieg Kraus nicht. Das hätte auch nicht seinem Wesen entsprochen. Auch, wenn dieses vorausschauende Werk, das zwischen März und September 1933 entstand und unvollendet blieb, erst nach Kraus’ Tod und sogar erst nach dem 2. Weltkrieg, im Jahr 1952, veröffentlicht wurde, erschienen Auszüge daraus in der Fackel vom Juli 1934. Kraus selbst hielt die Veröffentlichung der „dritten Walpurgisnacht“ zurück, weil er darin eine Gefahr erkannte: „Es kann geschehen, daß dieser [Goebbels], wenn er meine Sätze vor Augen bekommt, aus Wut fünfzig Juden von Königsberg in die Stehsärge eines Konzentrationslagers bringen läßt. Wie könnte ich das verantworten?7“
Kraus fiel nicht nur sehr viel zu Hitler ein, sondern es fiel ihm auch viel über ihn auf, was andere noch lange nicht zur Kenntnis nahmen. Schon 1923 wurde er durch Hitlers Worte hellhörig, dass jeder entschlossen sein müsse, „dem anderen das Gesetz der Vaterlandsliebe aufzuzwingen“. (Fackel 632-639/1923)
Im Jahr 1924, als Kraus in seiner Fackel daran erinnerte, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zehn Jahre zurücklag, kritisierte er wieder, „dass die Menschheit nichts verstanden und keine Lehren aus dem Unheil gezogen habe.2“ „Wäre es anders, so wäre der Versuch des Teufels, ihnen das Hakenkreuz einzubrennen, am ersten Tage gescheitert.“ (Fackel 657-667/1924) Das Vorgehen der Nationalsozialisten bezeichnete er als „Entmenschtheit“. (Fackel 876-884/1932)
Karl Kraus widersprach damit der viel wiederholten Entschuldigung, man hätte damals den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltpolitik nicht erkennen können. Kraus jedenfalls sah ihn. Durch Informationen aus Zeitungen, aus deutschen Postkartenabbildungen sowie Propaganda-Werbungen und durch kurze Berichte aus Deutschland konnte er das erschreckende Bild zusammensetzen.
„Ein armes Volk hebt beschwörend die Rechte empor zu dem Gesicht, zu der Stirn, zu der Pechsträhne: Wie lange noch! – Nicht so lange, als das Gedenken aller währen wird, die das Unbeschreibliche, das hier getan war, gelitten haben; jedes zertretenen Herzens, jedes zerbrochenen Willens, jeder geschändeten Ehre, aller Minuten geraubten Glücks der Schöpfung und jedes gekrümmten Haares auf dem Haupte aller, die nichts verschuldet hatten, als geboren zu sein!7“
Kraus selbst erlebte diese neuen letzten Tage der Menschheit (den Anschluss Österreichs und den 2. Weltkrieg) nicht. Er starb am 12. Juni 1936 im Alter von 62 Jahren an einem Herzinfarkt. Seine Mahnungen jedoch bleiben lebendig, solange es Korruption, Pressepropaganda und Kriege gibt.
Quellen:
1 Georg Markus: Wenn man trotzdem lacht – Geschichte und Geschichten des österreichischen Humors; Amalthea, 2012
2 Jens Malte Fischer: Karl Kraus – Der Widersprecher; dtv Verlag, 2021
3 Karl Kraus: Untergang der Welt durch Schwarze Magie; Mosel, 1960
4 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit; Jazzybee Verlag, 2017
5 Karl Kraus: In dieser großen Zeit – Auswahl 1914–25; Georg Müller Verlag, 1971
6 Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von einem Kreis dankbarer Freunde; 1934
7 Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht; Kösel, 1967
Karl Kraus: Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt – Aphorismen, Sprüche und Widersprüche; marix Verlag, 2020
Karl Kraus: Die Fackel – alle Ausgaben online abrufbar (im Text angegeben: Ausgabe/Jahr)