So lonely

FreiSein, wenn wir ganz bei uns sind

 

Sie sind fort, die alten Freunde. Viele Jahre durften wir miteinander verbringen. Manchmal geht noch ein Fenster auf, durch das wir uns betrachten und übereinander wundern. Die anfängliche Fassungslosigkeit ist zu etwas Alltäglichem geworden. Doch sind die langjährigen Beziehungen wirklich an politischen Narrativen zerbrochen? Können Regierungsentscheidungen wirkliche Freundschaften zerstören?

Gerade bei Menschen, an deren Zuneigung uns besonders viel liegt, fällt es oft schwer zu sagen, was uns irritiert, befremdet, frustriert. Misstöne werden durch vertraute Gesten überspielt, alte Codes täuschen über Entfremdung hinweg. Wir schließen faule Kompromisse oder decken mit dem Mantel der Freundschaft zu, was eigentlich deutlicher gesagt werden möchte. Wir mögen nicht sehen, wo vielleicht aus Offenheit Verhärtung geworden ist, aus Neugierde Gleichgültigkeit oder aus Sanftmut Bitterkeit.

Ich kann niemandem vorwerfen, mich getäuscht zu haben. Ich habe weggeschaut. Aus Angst vor dem Alleinsein, davor, die Zuneigung von Menschen zu verlieren, an denen mir liegt, habe ich es nicht gewagt, klarer zu kommunizieren. Viel deutlicher hätte ich meine Betroffenheit mitteilen und meine Grenzen zeigen sollen. Die Angst vor der Reaktion hielt mich zurück. Ich fürchtete, zurückgewiesen zu werden, und tat das, was in den vergangenen Jahren so vielen Menschen vorgeworfen wurde: Maske tragen. Mitmachen. Eine falsche Solidarität leben.

Du bist raus

Um dazuzugehören, bin ich dem Programm gefolgt, das ich in frühester Kindheit eingespielt bekommen habe: Sei folgsam.

Nur wenn ich mich so verhielt, wie man mich haben wollte, fühlte ich mich gemocht und akzeptiert. Dann war alles gut. Wenn ich hingegen andere nicht in ihrem Bedürfnis nach Zustimmung bediente, erfolgte häufig ein Bruch. Wenn ich anderer Meinung war und einen anderen Standpunkt vertrat, fand ich mich oft alleine wieder.

Menschen wendeten sich von mir ab, weil ich für dieses Magazin schreibe, grundsätzliche Fragen stelle und nicht in das Putin- und Trump-Bashing mit einstimme. Bereits meine Weigerung, Krebszellen als bösartige Monster zu sehen, hatte Befremden ausgelöst1. Auf meiner Suche nach innerem Frieden erntete ich manchmal nicht nur Unverständnis, sondern auch Hohn und Spott. Willst du jetzt die Welt retten? Als ich begann, Regierungsmaßnahmen zu kritisieren, wurde ich zur Feindin der Demokratie.

Übervater Staat

Wie eine Blasphemie wird geahndet, den Staat zu kritisieren. Er ist eine Art Übervater, der uns beschützen soll. Es gibt kaum einen Lebensbereich, in den er sich nicht einmischt. Bis in die Lufthoheit über den Kinderbetten reicht seine Macht. Sozialversicherung, Kranken-, Pflege-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, Kriegs- und Kriegsfolgeleistungen, Sozialhilfe, Fürsorgeerziehung, Jugendhilfe, Kindergeld, Unterhaltsvorschüsse, Eltern- beziehungsweise Erziehungsgeld – überall greift der Staat ein.

Er ist es, der Gerechtigkeit walten lässt und uns vor feindlichen Angriffen bewahrt. Ohne ihn, so scheint es, sind wir halt- und schutzlos Gefahren ausgesetzt, die unser Leben bedrohen. Den Staat in Frage zu stellen, ist wie eine Art Gotteslästerung, eine Beleidigung des Höchsten, dessen, was uns den letzten Halt gibt. Wo Gott tot ist und das Universum ein schwarzes Loch, verkörpert der Staat den höchsten Wert. Er ist der Vater, der uns beschützen soll. Auch wenn er manchmal hart durchgreifen muss: Wer mag schon daran zweifeln, dass er zum Wohle seiner Kinder handelt?

Aufs falsche Pferd gesetzt

Der Staat bezeichnet eine politische Ordnung, in der einer bestimmten Gruppe, Organisation oder Institution eine privilegierte Stellung zukommt2. Staaten gibt es seit dem vierten Jahrtausend vor Christus. Bis dahin lebten die Menschen in sich selbst organisierenden Gruppen zusammen und besaßen nicht mehr als sie brauchten. Kriege gab es nicht. Bevor es zu ersten Staatenbildungen kam, lebten die Menschen überwiegend friedlich zusammen. 99 Prozent der Menschheitsgeschichte, so Carl von Schaik und Kai Michel in ihrem Buch „Die Wahrheit über Eva“, verliefen ohne Kriege3.

Mit den ersten Staaten begannen nach außen hin die Eroberungen und Plünderungen. Nach innen hin wurden die Herrschaftsstrukturen gefestigt und diejenigen unterdrückt, die der ausschließlich männlichen Macht im Wege standen. Von den Beutezügen wurden Sklaven herangeschafft, die die Arbeit der Herren erledigten. Frauen hatten nichts zu sagen. Auch in der bis heute als Vorbild geltenden attischen Demokratie bestimmten allein die wohlhabenden Männer.

Im antiken Rom galten Frauen, Kinder und Sklaven als Vieh. Ohne rechtliche Konsequenzen konnten sie von ihrem Besitzer misshandelt und getötet werden. Auch in der Französischen Revolution wurde ausschließlich für die Rechte der „mündigen Bürger“ gekämpft. Die Menschenrechte galten nicht für Frauen, Sklaven und Zugereiste. Erst Olympe de Gouges stieß mit ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ eine Bewegung an, die die Grundlage für das Frauenwahlrecht in Europa wurde.

Jahrtausendelang sorgte Vater Staat nur für das Wohl einer bestimmten Elite. Dennoch überwiegt die Vorstellung eines wohlwollenden Vater Staat, der sich um alle seine Kinder kümmert.

Ist die Sklaverei heute nicht abgeschafft? Dürfen Frauen nicht wählen? Haben nicht auch die Kinder etwas zu sagen? Dürfen sie nicht vor ihrer Pubertät schon wählen, welchem Geschlecht sie angehören? Wird nicht alles getan für mehr Gleichheit, mehr Sicherheit, mehr Wohlstand für alle? Werden die Kriege nicht geführt, um für mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu sorgen?

Der große Verlust

In meinem Leben ist weggefallen, was mir lange das Gefühl von Sicherheit gab. Ich fühle mich in einem Staat nicht gut, der nach außen Kriege anheizt und nach innen Druck ausübt und die Menschen auf Schritt und Tritt kontrolliert und überwacht. In den vergangenen Jahren sind bei mir viele Orientierungspunkte weggebrochen. Nicht nur das Vertrauen in den Staat ging mir verloren. Mein Vater starb. Mein Mann starb. Die meisten der vertrauten alten Freunde sind nicht mehr in meinem Leben. Von meiner Herkunftsfamilie bin ich getrennt. Ich habe keine Kinder und keine Ahnung, wie es weitergeht.

Das, was ich am meisten fürchtete, ist eingetreten: Ich bin allein in einer unsicheren Welt. Ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt, was ich um jeden Preis vermeiden wollte. Es ist ein bisschen wie fliegen. Manchmal wird mir schwindelig.

Manchmal ist es wie in der Schlussszene des Films Alexis Sorbas nach dem Roman von Nikos Kazantzakis. Vor den Trümmern der Seilbahn des Bergwerkes, das während der feierlichen Einweihungszeremonie zusammenbrach, tanzt Anthony Quinn mit seinem jungen Freund. Alles ist kaputt. Nothing left. Nichts ist zu retten. Und beide lachen. Beide sind frei4.

Diese Freiheit ist zu mir gekommen. Es ist die Freiheit, mit der ich im Sommer ins Meer steige, mich auf den Rücken lege und tragen lasse. Das, was trägt, ist kein künstliches Gebilde, niemand, an dem ich mich festklammere, keine Gruppierung, keine Beschäftigung, kein guter Ruf. Es ist nichts, was von außen kommt. Es geschieht, wenn das innere Wasser mit dem äußeren Wasser in Resonanz geht. Dann werden wir getragen.

All eins

Ich bin allein und nicht allein. Was ich verloren habe, hat mir gleichzeitig etwas zum Geschenk gemacht: das, worauf es ankommt. Nicht die gesellschaftliche Stellung ist wichtig, sondern die Qualität der Verbindungen, die wir leben. Da, wo das Herz geöffnet ist für alle Lebewesen, für das Lebendige, löst sich die Angst vor dem Alleinsein auf, die Angst davor, zurückgewiesen zu werden und nicht dazuzugehören. Erst im Loslassen wird spürbar: Wir gehören dazu. Wir sind eingewoben in ein vor Lebensfreude vibrierendes Ganzes, wie es im Sirtaki des Alexis Sorbas zum Ausdruck kommt.

Aus diesem Ganzen können wir nicht herausfallen. Von diesem Netz werden alle zusammengehalten. Auch die, die wir hinter uns gelassen haben. Auch die, die zu unseren Widersachern geworden sind. Hier gibt es nur Mitspieler. Keine Feinde. Die Taten müssen ans Licht.

Die Verantwortlichen müssen die Konsequenzen für ihr Handeln tragen. Doch hierfür müssen wir sie nicht bekämpfen und damit weiter die Glut der Gewalt schüren. Es reicht, sie beim Namen zu nennen. Ich weiß, wer du bist. Ich sehe, was du getan hast.

Im Märchen wirkt die Magie. Augenblicklich reißt sich das Rumpelstilzchen entzwei und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen der Erde. In unserer Realität braucht es Zeit und Raum, bis am Ende alle auf der Bühne stehen und sich verbeugen. Es wird vielleicht noch dauern, bis es so weit ist, dass ein altes Stück zu Ende ist und ein neues beginnt. Bis dahin können wir uns noch ein wenig damit beschäftigen, unsere Namen zu finden und zu spüren wie es ist, ganz bei sich zu sein.

 

Quellen:

1 Kerstin Chavent: Die Waffen niederlegen. Die Botschaft der Krebszellen verstehen. Scorpio 2019
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Staat
3 Carl von Schaik, Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männer, Rowohlt 2020
4 https://www.youtube.com/watch?v=1cJfIbMbw_4

 

(Erstveröffentlichung bei Manova)

 

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