FreiSein für die Geburt des Neuen
An diesem Wochenende beginnt die Adventzeit, also jene Wochen, die uns auf Weihnachten vorbereiten sollen. Bevor die christlichen Kirchen das Fest für sich vereinnahmt haben und es zum Geburtstag von Jesus, dem Erlöser, dem Christus, dem Messias gemacht haben, waren diese Tage eine bedeutsame Wendezeit. Zur Wintersonnenwende erleben wir die längste Nacht des Jahres und mit ihr endlich auch die Rückkehr zum Licht. Und insofern sind die Wochen vor diesem Ereignis von großer Bedeutung für unser Menschsein, wenn wir denn in der Lage sind, diese auch dazu zu machen.
Schon der Begriff „Advent“, den wir heute auch in der Alltagssprache für diese Zeit verwenden, verheißt uns Ankunft. Wir können, wenn wir Christen sind, die Ankunft des Heilands in den Blick nehmen; wir können aber auch grundsätzlicher vorgehen und uns auf die Wiedergeburt des Lichts einstellen. Davor aber gilt es, die dunkelste Zeit des Jahres durchzustehen, die uns allerdings kaum noch wirklich bewusst wird. Mit all den Möglichkeiten der modernen Technik lässt sich die äußere Finsternis schnell und effizient vertreiben; innere Finsternisse aber bleiben, auch wenn sie auf vielfältige Weise verdeckt werden können. Dazu gehören beispielsweise die inflationär veranstalteten Advent-, Weihnachts- oder Christkindlmärkte und ihre zahlreichen Konsummöglichkeiten; oder die letzten Tage eines Arbeitsjahres, in denen noch das eine oder andere erledigt und abgeschlossen werden muss; oder die Qual der Wahl beim Überlegen, wen man denn wie beschenken könnte. Nicht wenige fühlen sich am Ende dieser Zeit, spätestens aber nach den Weihnachtsfeiertagen, nicht wie neugeboren, sondern erschöpft und innerlich leer.
Wie aber einmal anders vorgehen, wie einen neuen Weg gehen, der den natürlichen Ursprüngen dieser Tage um die Wintersonnenwende gerecht wird?
Das Entscheidende ist wohl, das Ziel in den Blick zu nehmen: Wenn es gelingt, nicht den Heiligen Abend mit seinem Anspruch auf Frieden, Harmonie und Geschenken ans Ende des Weges durch die Adventzeit zu stellen, ist der erste, wichtigste Schritt getan.
Stattdessen geht es um die Qualität dieser besonderen Zeit, die eben darin liegt, dass wir noch einige Wochen in der immer länger und intensiver werdenden Dunkelheit leben müssen. Dieses Bewusstsein ermöglicht uns auch einen Blick auf unsere inneren Dunkelheiten, auf das, was unrund ist, was misslungen ist, was uns schwer fällt, was uns Schwierigkeiten macht. Sie Nacht für Nacht ins Gedächtnis zu rufen, nicht mehr an ihnen vorbeizuschauen, sie anzuerkennen, ermöglicht es letztendlich, sie auch loslassen zu können. Was gesehen wird, was offensichtlich wird, rumort nicht mehr ständig im Unterbewusstsein, wo es bloß Kraft und Lebensenergie kostet. Sich Abend für Abend eine Auszeit zu nehmen, für sich selbst, für das eigene Selbst, und die äußere wie die innere Dunkelheit mit Kerzenlicht zu be- bzw. zu erleuchten, erfordert zwar durchaus Mut, lässt aber Heilung in Gang kommen.
Wir müssen nicht auf die Wiederkehr eines Heilandes warten, wenn wir in der Lage sind, unsere inneren Heilkräfte zu aktivieren. Wer das nicht für sich alleine, sondern im Kreis von lieben(den) Menschen machen darf, ist – so es dem eigenen Bedürfnis entspricht – in einer besonders glücklichen Lage. Wem es gelingt, das Äußere außen vor zu lassen, und dem Inneren seine Wichtigkeit (zurück) zu geben, wird am Ende dieses Weges reich beschenkt werden, reicher als Geschenke unter dem Weihnachtsbaum es sein können. Dort kommen dann nicht in glänzendes Papier gewickelte Packerln zu liegen, sondern auf schönem Papier geschriebene Erkenntnisse, die unsere Neugeburt anzeigen. Unser Weihnachtsevangelium wird gespeist aus der Erfahrung, dass wir in der Lage sind, Altes, Dunkles, Verbrauchtes zu lassen und Neues, Helles und Lebendiges zu gestalten.
Eine besondere Wirkung auf diesem Weg ist der Natur zuzuschreiben. Wer die Möglichkeit hat, regelmäßig fern vom Lärm der Stadt, einen Spaziergang zu machen, in der Kälte, der Dämmerung oder gar in der Nacht, der wird das Heimkommen in die warme, helle Stube als Wohltat erleben, die so erstrebenswert ist, dass man sie immer wieder erleben will. Erkennbar wird daran auch, dass das Leben ein Auf und Ab, ein Geben und Bekommen und ein Werden und Vergehen ist. Allein im Wechsel und der ständigen Veränderung liegt die einzige Konstante unserer Existenz. Sie anzunehmen ist die hohe Kunst des Seins, wem das gelingt, dem wird das vielzitierte Glück hold sein, auch und gerade aus der Dankbarkeit heraus, dass man am Leben ist. Auch dieses kann man als Geschenk begreifen, das gerade an Weihnachten, wenn es um Geburt geht, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken darf.
Wie alle Wege, so beginnt auch der Weg nach Weihnachten mit einem ersten Schritt. Möge dieser am ersten Adventsonntag gelingen und noch viele weitere folgen.
Abschließen möchte ich meine Gedanken mit einem kurzen Gedicht des Schweizer Pfarrers und Lyrikers Kurt Marti, der da schreibt:
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten:
Wo kämen wir hin?
Und niemand ginge,
um zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
Vertrauen wir dem Leben und machen wir uns auf den Weg, um dahin zu kommen, wo uns das Unerwartete, Neue, Lebendige erwartet.