Die öffentliche Unterlassung im Fall Julian Assange

Presse, Medien

FreiSein für Julian Assange

 

„Der Moment meines Abschieds von Assange am Ende des Nachmittags ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte ihm die Hand gegeben, hatte ihm alles Gute gewünscht und wollte mich schon zum Gehen wenden, die Ärzte standen bereits an der Tür. Da verfestigte sich plötzlich sein Griff um meine Hand, und er hielt mich zurück. Was er sagen wollte, fiel ihm sichtlich schwer. ‚I hate to say this …‘, begann er. Dann zögerte er einen ewigen Augenblick lang, bis die Worte endlich über seine Lippen kamen: ‚Please, save my life!‘“ (Nils Melzer über seine erste Begegnung mit Julian Assange im Belmarsh Gefängnis)

Mediale Unterlassung

Die Hauptaufgaben der Medien sind erstens das gewissenhafte Recherchieren und zweitens, über diese Ergebnisse auch objektiv zu berichten. Im Fall Julian Assange wurde beides folgenschwer unterlassen.

Julian Assange ist der zuerst öffentlich bewunderte und danach fallengelassene Journalist und Gründer der Plattform WikiLeaks, der uns durch sein Wirken das hässliche Gesicht großer Nationen gezeigt hat. Und er tut es noch. Nicht so, wie er sich das gewünscht hätte – über das Internet und andere Medien –, sondern dadurch, wie er nun behandelt wird. Er war nicht zu dressieren, also musste man die Schlinge um seinen Hals immer enger ziehen. Die USA, Großbritannien, Schweden und schließlich auch Ecuador – jede dieser Nationen zerrte an ihrem Ende des Stricks. Und die Menschen sahen und sehen bis heute dabei zu. Keine weltweit lautschreiende Intervention der Politik oder der großen Medien. Selbst so manche Menschenrechtsorganisation war sich nicht immer sicher, ob Julians Leben überhaupt schützenswert sei.

Die öffentliche Unwissenheit hat ihren Ursprung vor allem im beständigen Schweigen der Medien. Das soll keine Ausrede sein, schließlich gibt es genug Menschen, die es geschafft haben, sich selbst zu informieren. Durch diesen genaueren Blick haben sie erfahren, dass ein Journalist in unserem „moralischen, die Menschenrechte stets achtenden“ Westen, der gern hochmütige Kritik an nicht so „untadeligen“ Ländern übt, seit vielen Jahren unschuldig verfolgt wird.

Was bezwecken die stummen Medien damit? Möchten sie dem imposanten Freund USA gefallen? Können sie nicht glauben, dass ein solches Unrecht in unserer so großartig funktionierenden Demokratie überhaupt möglich ist oder unterstützen sie diese Verfolgung gar bewusst? Glauben sie, dass durch Wegsehen von selbst alles gut wird? Ist ihnen die Pressefreiheit nicht wichtig genug, um ihr Schweigen zu brechen? Sind sie es womöglich schon so gewöhnt, nicht nachzufragen, dass sie die Zensur überhaupt nicht bemerken oder gar begrüßen? Oder begreifen sie die Folgen nicht in vollem Umfang? Was auch immer der Grund ist, er legitimiert eine Ungerechtigkeit, die sich dadurch weitestgehend ungehindert fortsetzen kann.

Die scheinbar unerkannte Gefahr für die gesamte Pressefreiheit kann gar nicht oft genug betont werden. Die unwürdige Behandlung des US-Staatsfeindes Assange soll deutlich machen, dass die Krallen der US-Justiz über den Atlantik nach Europa reichen, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte außer Kraft setzen und den widerspenstigsten Geist brechen können. Die Drohung richtet sich an alle Journalisten.

Die Presse erinnert sich an Assange – und singt wieder das alte Lied

Anfang Mai 2019, schon einen Monat nach der brisanten Abführung Assanges aus der Botschaft ins „Her Majesty’s Prison Belmarsh“, dem britischen „Guantanamo“, wie es aufgrund seiner strengen Sicherheitsmaßnahmen genannt wird, als Nils Melzer, der damalige UN-Sonderbeauftragte für Folter, den berühmten Inhaftierten in Augenschein nahm, waren die Medien seiner Ankündigung zu einer Pressemitteilung nicht gefolgt. Ein einzelner Journalist des Ruptly, „eine Nachrichtenagentur aus dem Umfeld des staatlichen russischen Fernsehsenders RT*“ schien Interesse an den Untersuchungsergebnissen zu haben.

Die aktuelle Anhörung in London am 20. und 21. Februar hat nun offenbar doch die schlummernden Medien geweckt. Julian Assange – zwar nicht auf den Titelseiten, doch wenigstens wieder zum Leben erweckt – wird in den Mainstream-Medien erwähnt. Stets natürlich mit dem Zusatz der altbekannten US-Vorwürfe.

Auch Markus Lanz räumte Julian Assange in seiner ZDF-Sendung am 14. März Platz ein. Was sich bei der Anhörung im Februar am Londoner High Court gezeigt hat, war auch in dieser Debatte zu sehen – die Gegenseite hat keine neuen Argumente. Gleichtönend wiederholt sie seit Jahren die selben, längst widerlegten Behauptungen, die erkennen lassen, dass sie Julian Assange für einen Rüpel, einen Schmutzfink, einen Narzissten, einen Vergewaltiger, einen Verräter und einen Lebensgefährder hält. Die großen Medien, die gerade nicht schweigen, urteilen über Assange ohne umfassend aufzuklären und vermitteln dadurch den Eindruck, hier werde einem Straftäter seine gerechte Strafe zuteil. So auch bei Markus Lanz.

Großartig war, dass man in dieser Sendung Gabriel Shipton, Julians Bruder, zu Wort kommen ließ – zu Julians Gesundheitszustand, den Haftbedingungen und den Besuchen seiner Kinder. Allerdings fragte Lanz ihn nicht nach den Unwahrheiten, die seinen Bruder immer noch zum medialen Bösewicht machen.
Stattdessen durften zwei außenstehende Personen über Assanges Situation aufklären: Kai Ambos, Professor für Strafrecht, und der Journalist Heribert Prantl. Beide waren sich einig, dass es Zeit sei, Assange frei zu lassen. Während sich Prantl mit dem Argument der Pressefreiheit dafür aussprach, war der Kontrahent Ambos eher aus Barmherzigkeit, „aus humanitären Gründen“, weil er bereits genug bestraft worden sei, für Assanges Freilassung.

Was er Assange besonders – und auch tatsächlich sehr emotional vorgetragen – vorwirft, ist die „grob fahrlässige“ unredigierte Veröffentlichung von Dokumenten, durch die Informanten in Ländern, wie etwa Afghanistan, Syrien, Irak, gefährdet wurden. Kriegsverbrechen aufzudecken wäre wichtig, Staatsgeheimnisse hingegen gilt es zu schützen.

Ambos behauptet dann noch, Assange hätte freiwillig jahrelang in der ecuadorianischen Botschaft gelebt, wärmt auch wieder die schwedischen Vorwürfe der Vergewaltigung auf, die zwar strafrechtlich nicht weiter verfolgt werden, jedoch nur, weil diese teilweise verjährt wären. Das Bild des gefährlichen Mannes wird wieder neu gezeichnet.

Eine Auslieferung an die USA könne unter Umständen sogar gut für Assange sein, meint Ambos weiter. Womöglich würde er aufgrund der Wichtigkeit der Pressefreiheit in den USA überhaupt nicht verurteilt. Die Todesstrafe stünde natürlich nicht zur Debatte, denn nach der Europäischen Menschenrechtskonvention könne er deshalb überhaupt nicht ausgeliefert werden.
Diese Annahmen des Contra-Kandidaten könnten aus einer rührenden Gutgläubigkeit an das demokratische Rechtssystem herrühren. Betrachtet man allerdings die zahlreichen sonderbaren Entscheidungen, die die involvierten Rechtsstaaten bisher im Fall Assange getroffen und umgesetzt haben, sollte man diese Sichtweise doch eher als blauäugig bezeichnen.

Assange-Fürsprecher Prantl hatte seine Gegenargumente leider weniger gut vorbereitet. Er wiederholte: „Julian Assange ist ein digitaler Pionier. Er war der Erste, der diese Art von Datenmengen versucht hat zu verarbeiten.“ Damit rechtfertigt er „gigantische Datenmengen, die Assange ins Netz geschaufelt“ hätte. Er sprach zwar erfreulicherweise die Gefahr für die gesamte Pressefreiheit durch den Umgang mit Assange an, widerlegte aber keine der Verleumdungen, die wohl kaum überraschend für ihn kamen.

Deshalb ist Aufklärung so wichtig, und deshalb möchte ich hier die fehlenden Antworten geben – alle, wenn nicht anders angegeben, aus dem Buch von Nils Melzer, dem ehemaligen UN-Sonderbeauftragten für Folter und Menschenrechtsverletzungen, der sich intensiv mit dem Fall Assange auseinandergesetzt und akribisch und vor allem objektiv, wie es seine berufliche Stellung forderte, recherchiert hat.

Was ist wahr?

Julian Assange – unsympathisch und narzisstisch?
Dass Julian Assange dem Gast bei Herrn Lanz, wie dieser sagt, unsympathisch sei, zeigt das Bild, das der Öffentlichkeit von ihm übermittelt wurde. Ich stelle mir dazu die Frage der Relevanz für die Fernsehdiskussion, aber auch für sein eigenes Urteil. Denn Voreingenommenheit bedingt zumal Faktenblindheit. Und die großen Medien haben fleißig dazu beigetragen, den vormaligen Helden in ein Monster zu verwandeln.

Nils Melzer hatte dieses Vorurteil zuerst ebenfalls, das er nach langer Beschäftigung mit dem Fall Assange revidiert hat: „Wäre Assange ein rücksichtsloser Narzisst, dann hätte er ja nicht diesen stark ausgeprägten, in jedem Interview erkennbaren Gerechtigkeitssinn, nicht dieses unübersehbare Interesse am Schicksal anderer Menschen. Nur so lässt es sich erklären, warum sich Assange überhaupt auf ein Kräftemessen mit den mächtigsten Regierungen der Welt eingelassen hatte. Die Ungerechtigkeit ihrer Politik öffentlich zu machen, ihre Doppelmoral und die schmutzigen Geheimnisse ihrer Kriege – dies muss ihm ein solches Bedürfnis gewesen sein, dass er bereit war, dafür alles zu riskieren.“

Stattdessen beschreibt Melzer ihn als „einen hochintelligenten, geistig extrem widerstandsfähigen Mann, der verzweifelt darum bemüht war, die Fäden seines eigenen Schicksals festzuhalten, obwohl man sie ihm längst schon aus der Hand genommen hatte.“

Julian Assange, der Menschengefährder?
Bei Assange-Debatten allgegenwärtig ist die Behauptung, Julian hätte durch seine unredigierte Veröffentlichung Menschenleben gefährdet. Dazu möchte ich wieder Herrn Melzer zitieren: „Anders als oft behauptet, werden Informationen, die Personen gefährden könnten und noch nicht öffentlich zugänglich sind, von WikiLeaks geschwärzt. (…) Es gibt jedoch bis heute keine Belege für die von der US-Regierung so oft wiederholte These, Menschen seien durch die WikiLeaks-Veröffentlichungen gefährdet worden. Im Video Collateral Murder hingegen werden wehrlose Menschen nicht bloß gefährdet, sondern vor laufender Kamera massakriert. Davon spricht aber niemand. Dafür wurde nie jemand bestraft.“

Es gab „90 000 Dateien mit Feldberichten aus dem Afghanistankrieg, mehrere Hunderttausend aus dem Irakkrieg und ab November dann noch eine Viertelmillion Depeschen US-amerikanischer Botschaftsmitarbeiter aus allen Ländern der Erde. Wichtig ist, dass auf Anweisung von Assange allen diesen Publikationen ein rigoroser „Schadensminimierungsprozess“ vorangeht, bei dem Namen von potenziell gefährdeten Personen einzeln zensiert werden. So hält Assange bereits bei der Veröffentlichung des Afghan War Diary im Juli 2010 rund 15 000 Dokumente zurück, um der US-Regierung und der internationalen Militärmission ISAF Zeit zu geben, sensible Daten zu identifizieren, die geschwärzt werden müssen. Erst die fahrlässige Veröffentlichung des Passworts zu von WikiLeaks verschlüsselten, unredigierten Originaldokumenten durch einen Journalisten des Guardian wird Assange ein Jahr später dazu bewegen, die betroffenen Dokumente auch selbst unredigiert zu veröffentlichen.“

Melzer sagt weiter, dass die Verfolgung von Assange und anderen Aufdeckern, wie Chelsea Manning und Edward Snowden, nicht geschieht, „weil diese Menschen wirklich großen Schaden angerichtet hätten. Niemand wurde ernsthaft gefährdet, kein Staatsvermögen vernichtet und kein Krieg verloren.“ Stattdessen sollen weitere Enthüllungen, weitere WikiLeaks-Plattformen, verhindert werden, denn die Collateral-Murder-Operation sei keine Ausnahmeerscheinung gewesen.

Aufenthalt in der Botschaft – freiwillig?
Der dreisten Behauptung, Assange hätte sich freiwillig jahrelang in der ecuadorianischen Botschaft aufgehalten, muss ebenfalls Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Ärztin Sondra Crosby, eine angesehene Spezialistin für die Untersuchung von Folteropfern, besuchte Julian Assange in der Botschaft, wo er sich zwischen 2012 und 2019 aufhielt. Ihr Gutachten Anfang 2019 ergab, dass die Zustände sich „gravierend auf Assanges Gesundheit“ ausgewirkt hätten. „Die beengten Räumlichkeiten und die daraus resultierenden fehlenden Bewegungsmöglichkeiten; der Mangel an Tageslicht; die soziale Isolation“ hätten zu chronischem Stress geführt, wie Melzer ausführt. Dazu kämen Einschränkung von Besuchsrechten, fehlende medizinische Behandlung und seine dauerhafte Überwachung sogar bei vertraulichen Arztgesprächen.
„Crosbys Fazit war unmissverständlich: Aus medizinischer Sicht verstieß Assanges Behandlung gegen das Folter- und Misshandlungsverbot der internationalen Antifolterkonvention“.

Bereits 2015 wurde von der UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen ein Gutachten zu Assanges Situation in der Botschaft erstellt. Die sogenannte „Freiwilligkeit“ seines Aufenthalts wurde in diesem klar widerlegt. Ohne Anklage der schwedischen Behörden und mit der Sorge, an die USA ausgeliefert zu werden, sprach man damals schon „von einem mit der Unschuldsvermutung unvereinbaren Schwebezustand, dessen Dauer jedes akzeptable Maß längst überschritten hatte. (…) Assanges einzige Möglichkeit, sich vor einer Auslieferung in die USA zu schützen, wo ihn ein unfairer Prozess und unmenschliche Haftbedingungen erwarteten, bestehe in seinem fortgesetzten Ausharren innerhalb des Gebäudes. (…) Wie jeder andere Mensch dürfe aber auch er nicht gezwungen werden, die Sicherheit und Unversehrtheit seiner Person aufzugeben und sich selbst dem Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen auszusetzen. Aus diesem Grund könne Assanges weiterer Verbleib in der Botschaft gerade nicht als freiwillig bezeichnet werden.“

Im Mai 2019, einem Monat nach seiner behördlichen Entführung aus der Botschaft, erkannte Melzer bei seinem Besuch in Belmarsh körperliche, neurologische und kognitive Beeinträchtigungen, „die mich jedenfalls sofort an Unterhaltungen mit anderen politischen Häftlingen erinnerten, die bereits über eine lange Zeit isoliert gewesen waren“. Assanges „freiwilliger Urlaub“ in der Botschaft hatte also bereits gravierende Spuren hinterlassen.

Gerechte Verhandlung und keine Todesstrafe für Assange?
Der Vermutung von Ambos, Assange würde in den USA ein gerechtes Verfahren mit eventuellem Freispruch erwarten, widersprachen also bereits vor Jahren die UNO-Experten für willkürliche Inhaftierungen. Das menschenrechtsverletzende britische Schauspiel von voreingenommenen Richtern und folgenschweren „unbemerkten“ Fehlern könnte ein Vorgeschmack auf das gewesen sein, was Assange in den Vereinigten Staaten erwartet.
„Wie in meinem offiziellen Schreiben an Sie ausführlich dargelegt, haben die britischen Gerichte bisher nicht die rechtsstaatlich geforderte Unparteilichkeit und Objektivität gezeigt,“ schrieb Melzer an den damaligen britischen Außenminister Jeremy Hunt.

In der Tat wurde bisher kein Vergehen angezeigt, das die Todesstrafe zur Folge haben könnte, doch selbst Nils Melzer war der Ansicht, dass es den Amerikanern erlaubt wäre, „auch nach seiner Auslieferung in die USA gestützt auf die – tatsächlich ungewöhnlich breit gefasste – Sachverhaltsdarstellung im Auslieferungsgesuch neue und andere Anklagepunkte hinzuzufügen. Unter Umständen sogar Delikte, die mit der Todesstrafe bedroht waren oder mit einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung.“

Die schwedischen Anklagen
Die Vorwürfe der Vergewaltigung aus Schweden – eine bereits völlig erkaltete Spur, die in der Lanz-Sendung wieder aufgewärmt wurde – kann in Kürze erklärt werden: Keine Anklage, keine Strafanzeige der vermeintlichen Opfer, keine Beweise, aber gelungener Rufmord.
Der Zeitpunkt dieser Anschuldigungen fiel „zufällig“ zeitlich damit zusammen, dass „die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten dazu ermutigt hatten, Gründe für die Strafverfolgung von Assange zu finden. (…) Seither haben sowohl Schweden als auch Großbritannien alles getan, um zu verhindern, dass sich Assange diesen Anschuldigungen hätte stellen können, ohne sich gleichzeitig einer Auslieferung an die USA auszusetzen und damit einem Schauprozess und lebenslänglicher Gefangenschaft. Seine letzte Zuflucht war die ecuadorianische Botschaft in London gewesen.**“

Auch im schwedischen Verfahren häuften sich rechtliche Unregelmäßigkeiten und Merkwürdigkeiten. Überdies verweigerte man Assange die Zusicherung der Nicht-Auslieferung an die USA – „ein weltweit verbreitetes Standardinstrument internationaler Beziehungen, welches gerade im Zusammenhang mit Auslieferungen und der Abschiebung von Migranten tagtäglich zum Einsatz kommt. Der ausliefernde Staat lässt sich vom Zielstaat schriftlich zusichern, dass die auszuliefernde Person keinesfalls hingerichtet, gefoltert oder anderweitig misshandelt wird, dass ihre Verfahrensrechte garantiert sind und dass sie – nach dem universellen Grundsatz des Non-Refoulement – auch nicht an einen Drittstaat ausgeliefert wird, in welchem der Menschenrechtsschutz nicht gewährleistet ist.“

Richterlicher Entscheid vom 26. März 2024
Die vertagte Entscheidung der Richter des Londoner High Courts von Assanges Berufungsanhörung am 20. und 21. Februar wurde erst einen Monat später, am 26. März, bekannt gegeben. Diese zeigt, dass selbst die bisher im Fall Assange nicht sehr vorbildlich handelnde britische Justiz scheinbar kein blindes Vertrauen in die US-Rechtssprechung hat. Gefordert werden Zusicherungen von den Vereinigten Staaten, die man eigentlich bereits vor Jahren hätte verlangen können und sollen: Die USA soll bestätigen, dass Assange durch das Recht auf freie Meinungsäußerung im Ersten Verfassungszusatz geschützt ist, dass er als Nicht-Staatsbürger nicht benachteiligt wird und ihm nicht die Todesstrafe droht***.

Die Abschiebung an die USA ist damit jedoch nicht vom Tisch, sondern nur verschoben. Falls die USA den Forderungen nicht pünktlich und umfänglich nachkommt, erhält Julian die Gelegenheit zu einer Berufung. Werden die Zusicherungen gegeben, dürfen Assanges Anwälte neue Argumente für eine Berufung vorbringen.

Diese richterlichen Forderungen bestätigen zusätzlich zu Melzers Worten, dass die Befürchtungen des unfairen Prozesses und der Todesstrafe sehr wohl im Raum stehen.

Der Verrat von Staatsgeheimnissen
Das Thema der notwendigen staatlichen Geheimhaltung wird in der ZDF-Diskussion ebenfalls aufgeworfen. Einig ist man sich, dass es schützenswerte Staatsgeheimnisse gibt. Uneinig, ob Assange diese „grob fahrlässig“ veröffentlicht hat. Genau hier beginnt die Schwierigkeit: Wer entscheidet darüber, was in öffentlichem Interesse ist? Im Fall Assange bestimmen genau jene Instanzen, die die Geheimhaltung ihrer eigenen Verbrechen verteidigen, während sie den Boten verfolgen.

Nils Melzer schreibt dazu in seinem Buch: „Ich habe gut zwei Jahrzehnte im internationalen System verbracht, und ich bin dabei zu der Überzeugung gekommen, dass wir diese Art der Geheimhaltung, die ganze Bereiche vor den Bürgern abschirmt, weder brauchen noch zulassen dürfen. Denn eine Sphäre staatlichen Handelns, die sich komplett dem Wissen und der Kontrolle der Öffentlichkeit entzieht, darf es nicht geben. Sobald sie nämlich existiert, ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Dann kommt es unvermeidlich zum Vertuschen von Verbrechen, zu Ausbeutung und Korruption.“

„Die überwiegende Mehrheit von geheimen Informationen werden deswegen geheim gehalten, um politische Sicherheit und nicht um nationale Sicherheit zu schützen.“ (Julian Assange)

 

Quellen:
* Nils Melzer: Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung; Piper Verlag, 2021
** Nils Melzer: Demasking the Torture of Julian Assange; 26.6.19 (hier in deutscher Übersetzung)
*** Newsletter Gabriel Shipton, Assange Campaign Australia

Weiterführende Informationen zu Julian Assange:
Ortwin Rosner: 6 Mythen über Julian Assange; Unsere ZeitenWende am 6.3.24
Daniela Lupp: Wenn das Aufdecken von Verbrechen zum Verbrechen wird; Plattform RESPEKT am 11.5.23

 

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