FreiSein für lebensbereicherndes Lernen
„Es ist das Natürlichste auf der Welt zu lernen und uns weiter zu entwickeln, bis zu dem Moment, wo jemand kommt und uns dazu zwingt.“ (Marshall Rosenberg)
Das ewig gestrige Schulsystem
Die Schule bereitet auf das Leben vor – soweit sind sich alle einig. Beim Wie gehen die Meinungen bereits stark auseinander. Wer sich in dem heutigen Schulsystem wohl fühlt (das man eigentlich nicht als heutig, sondern eher als gestrig bezeichnen müsste, weil es schon sehr lang verzweifelt auf eine umfassende Reform wartet) wird einmal ein guter Bürger und vor allem Mitarbeiter in einer Firma werden, wo er seine Lebenszeit für ein verhältnismäßig kleines Gehalt verschenkt, um andere reich zu machen. Ja, unser „heutiges“ Schulsystem bereitet auf dieses Leben vor.
An einem allerersten Schultag sitzen im Klassenzimmer etwa dreißig neugierige und hochmotivierte Kinder, die bereit sind, etwas Neues zu lernen. Manchen vergeht diese Lust bereits nach ein paar Wochen, andere brauchen etwas länger, aber kaum einer von ihnen ist im nächsten Schuljahr noch wirklich begeistert.
Das natürliche Lernen der Kinder durch Beobachten und Ausprobieren wird ihnen gekonnt abtrainiert, in dem sie Informationen erhalten, denen sie oft keine Bedeutung beimessen und deren Wert sie nicht erkennen können (den es so manches Mal auch nicht gibt). Wer nicht mitkommt, wird häufig als nicht intelligent genug betrachtet. Wer nicht ruhig sitzen möchte, der sollte untersucht werden und eventuell sogar Medikamente erhalten.
Konkurrenzdenken wird gefördert anstatt die Kleinen miteinander den Lehrstoff entdecken zu lassen, um gemeinsam Lösungen zu finden. Auch die Phantasie – ein Mittel, die Dinge in der Vorstellung auszuprobieren, für die man eigentlich noch zu klein ist – wird ihnen als unbrauchbar vermittelt.
Dr. Gerald Hüther meint dazu: „Als Neurobiologe kann ich nur sagen, dass das Allerwichtigste, das ein Mensch besitzt, und das die Voraussetzung ist, dass er viel lernt und sich später im Leben zurechtfindet, die angeborene Lust am Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist. Wenn das nicht verginge, würden alle Kinder ganz viel lernen. Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist: Wir sollten alles tun, dass dieser besondere Schatz, nämlich die Lust am Lernen, nicht verlorengeht.“1
Wie Kinder lernen
Der Lehrer und Autor John Caldwell Holt (1923 – 1985) war überzeugt davon, dass das Schulsystem nicht kindgerecht wäre und befürwortete daher das Homeschooling. Denn Kinder würden von Natur aus gern lernen. Sie möchten die Welt begreifen. Sie sind begierig, so viel wie möglich zu erfahren, zu entdecken, auszuprobieren und zu verstehen – so macht Lernen Spaß. Das gelingt am wenigsten, wenn sie sich langweilen oder entmutigt werden, unter Druck stehen, sich erniedrigt fühlen oder Angst haben.
„Der Erforschungstrieb ist nämlich nur dann aktiv, wenn sich Kinder sicher und geborgen fühlen. Das heißt – wenn sie in verlässlichen, authentischen, feinfühligen Beziehungen leben können. (…) Kinder jedoch, die der Welt vertrauen können, machen sich auf, und wie!“²
Fehler sind beim Lernen hingegen kein Problem. Sie können sogar anspornen. Niemand hätte gehen oder sprechen gelernt, hätten wir als Kinder Angst vor Rückschlägen gehabt. Diese Scheu wird uns also angelernt und die Schule ist dafür der perfekte Ort. Führen wir uns eine gewöhnliche Schulklasse vor Augen, so sitzen diese leidenschaftlichen und lebendigen jungen Menschen bewegungslos da, lassen sich passiv belehren und warten darauf, dass Informationen abgeprüft werden, um eine Bewertung zu erhalten.
„Die menschliche Vorstellungskraft wächst offenbar in dem Maß, wie es uns gelingt, immer mehr unserer Ideen auch wirklich umzusetzen. Und sie verschwindet umso nachhaltiger, je häufiger wir an der Umsetzung unserer Vorstellungen gehindert werden, seltener, weil wir dabei scheitern.“³
Kinder lernen außerdem sehr viel vom Beobachten anderer. Vorbilder können dabei Erwachsene und andere Kinder (oft ein wenig ältere) sein – wichtig dabei ist, dass diese „von dem, was sie da machen, auch wirklich überzeugt und begeistert sind. Nur dann bleibt das Verhalten bei Kindern haften.“²
Aus dem Miteinander mit anderen lernen sie das, was sie am meisten brauchen – soziale Kompetenzen. Wichtiger als alle Flüsse der Welt beim Namen und die verschiedenen Gesteinsarten der Alpen aufzählen zu können, ist das harmonische Auskommen mit anderen Menschen. Das kann ihnen nur schwer über Lehrbücher vermittelt werden, das müssen sie erfahren. Die Voraussetzungen, die dazu in den Schulen geschaffen werden, sind mit Laborbedingungen vergleichbar – sie funktionieren in gewissem Rahmen, aber nicht so umfangreich wie in der natürlichen Umgebung. Das Klassenzimmer, in dem die Angst vor Versagen in der Luft liegt, lehrt kaum Harmonie und Mitgefühl. Die kurzen Pausen, in denen die jungen Menschen ungehemmter miteinander kommunizieren können, sind vielleicht wichtiger für deren Entwicklung als die Unterrichtseinheiten selbst.
„Im gemeinsamen Tätigsein sind wir Menschen in der Lage, unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse – das nach Kompetenzerwerb, Autonomie und Freiheit einerseits und das nach Zugehörigkeit, Verbundenheit und Geborgenheit andererseits – gleichzeitig zu stillen. Wer etwas tut, das ihm eine eigene Weiterentwicklung ermöglicht und das ihn gleichzeitig in diesem Tun mit sich selbst und mit anderen Menschen verbindet, ist kein Bedürftiger mehr. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine Person die in ihr angelegten Potenziale frei und aus sich selbst heraus entfalten. Dann, nur dann, erlebt sie sich als Subjekt, als Gestalter ihres eigenen Lebens und ihres Zusammenlebens mit anderen, nicht aber als Objekt der Absichten und Erwartungen, der Belehrungen und Bewertungen oder gar der Maßnahmen und Anordnungen anderer.“³
Auf die natürlichen Bedürfnisse des Kindes geht das von Marshall Rosenberg entwickelte Schulwesen, die Giraffenschule, ein.
Lebensbereicherndes Lernen in Giraffenschulen
Der US-amerikanische Psychologe Marshall Bertram Rosenberg (1934 – 2015) drückte es einst so aus: „In den regulären Schulen, in denen ich oft arbeite, sind Lehrer wie Milchflaschen und die Schüler wie leere Gläser, die in einer Reihe aufgestellt sind. Unterrichten ist: die Milch in die Gläser gießen. Wenn die Prüfung kommt, dann schütten die Gläser die Milch wieder in die Milchflasche, und am Ende haben wir 30 dreckige leere Gläser und eine Milchflasche voll mit ausgekotzter Milch.“ 4
Rosenberg hat sich zeitlebens für die friedliche Verständigung zwischen Menschen eingesetzt – er entwickelte die sehr erfolgreiche Methode der so genannten Gewaltfreien Kommunikation – und für kindgerechtes Lernen. Die Life-Serving-Schools oder Giraffenschulen, die er in mehreren Ländern der Welt gründete, basieren auf dem Konzept der freien Entscheidung. Es gibt kein Muss. Lehrer sind keine angsteinflößenden Autoritätspersonen, die Kinder mit der Aussicht auf schlechte Noten zwingen, Inhalte zu lernen, die uninteressant oder gar unverständlich sind und nie wieder gebraucht werden. In einer Giraffenschule wird der Lehrer zu einer Art Verkäufer. Er macht den Schülern ein Angebot, das nur angenommen werden muss, wenn sie einen Sinn erkennen und es ihr Leben bereichert.
Damit vermittelt die Giraffenschule Wissen an eine Gruppe interessierter Kinder, wodurch sie sich gern mit der Thematik beschäftigen und gegenseitig beim Lernen unterstützen. Etwas, das Freude macht, zeigt man auch gern anderen, und wir alle wissen, dass Begeisterung ansteckend ist. Der Lehrer hat indessen Zeit, sich um einzelne Schüler zu kümmern, ohne befürchten zu müssen, dass sich die anderen in der Zwischenzeit langweilen oder Schabernack treiben. Ein individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse einzelner ist also möglich – durch Lehrer und Schüler.
Statt verschwenderisch mit der Zeit der jungen Menschen umzugehen, sind Lehrer und Schulsystem gezwungen, eine Sinnhaftigkeit in den Unterrichtsstoff zu bringen.
„Darum geht es in der Giraffenschule – die wichtigste Fähigkeit der Lehrer ist, den Schülern den lebensbereichernden Sinn und Zweck dessen, was sie unterrichten, zu vermitteln.“4
Was keinen Wert hat, erhält keine Aufmerksamkeit. An sich auch eine gute Lektion zu trainieren, sich für Unnötiges keine Lebenszeit stehlen zu lassen. Doch dieser Weitblick wird Kindern in unserem derzeitigen System nicht zugetraut. Der Effekt ist: Man lernt nur für den Moment und das unter enormem Druck und Stress. Ist die Prüfung vorbei, ist dieses Wissen wieder aus dem Kopf verschwunden.
Warum Giraffen?
Weil sie das größte Herz unter den Landtieren haben. Aus Rosenbergs Definition ist die Giraffensprache eine Sprache des Herzens, man gibt und empfängt mit dem Herzen.
„Bei der Geburt haben wir alle Giraffensprache gesprochen, und in unserem ersten Lebensjahr beherrschten wir diese Sprache perfekt“. Sie wieder zu erlernen, wäre „zu einer natürlichen Art des Seins und der Kommunikation zurück zu kehren.“5
Regeln in Giraffenschulen
Regeln werden gemeinsam – zwischen Lehrern und Schülern – festgelegt. Basis dabei sind die Bedürfnisse aller, die gewahrt und geschützt werden sollen. Es geht also um schützende und nicht um strafende Macht. Handelt jemand zuwider, versucht man die Gründe – die dahinter liegenden Bedürfnisse – herauszufinden anstatt Konsequenzen anzudrohen.
Die strenge Einteilung in richtig und falsch, die in unseren Schulen vermittelt wird, führt dazu, dass man Kindern die Freude am Ausprobieren und Erforschen nimmt. Sie haben Angst, etwas falsch zu machen, und diese Angst tragen sie ins Erwachsenenleben und geben sie später an ihre eigenen Kinder weiter.
Rosenberg beschreibt eine Begegnung mit einem siebenjährigen Knaben, der in der Mathematikstunde bei einer Addition zu einem falschen Resultat kam. Er fragte ihn sanft: „Wie kommst du auf dieses Ergebnis? Bei mir kommt was anderes raus. Kannst du mir zeigen, wie du zu deinem Ergebnis gekommen bist?“ Allein diese Frage hat den Buben zum Weinen gebracht.
„Sehen Sie? Obwohl ich gar keine Bewertung in meiner Sprache hatte, war sein Denken schon in Kategorien von richtig und falsch programmiert. Und er war erst sieben Jahre alt, und die Schule hat ihm bereits Angst gemacht.“4
Selbstverständlich gibt es Tests in Giraffenschulen und selbstverständlich haben sie einen anderen Zweck als in den uns bekannten Schulen – nämlich, dem Lehrer Feedback zu geben statt den Schüler zu bewerten. Deshalb bilden sie nicht den Abschluss des Semesters, sondern den Beginn, um zu zeigen, auf welche Bereiche noch mehr eingegangen werden sollte.
Gewaltfreie Kommunikation
Ganz nach Rosenbergs Herzensthema – die Gewaltfreie Kommunikation – lernen Kinder in Giraffenschulen die Giraffensprache. Sie lösen Konflikte selbst – miteinander statt gegeneinander.
Viele Auseinandersetzungen lassen sich von vornherein vermeiden, wenn man urteilsfrei bleibt, weder Angst, noch Schuld oder Scham vermittelt und mit offenem Ohr und offenem Herzen zuhört, also „gewaltfrei“ kommuniziert.
„In Israel gibt es die meisten Giraffenschulen, ungefähr 70. Und es gibt dort an die 1000 Kindergärten, in denen die Kinder mit den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation aufwachsen. In Israel gibt es eine Studie, die einen Forschungspreis gewonnen hat, und sie belegt, dass in den Giraffenschulen die Gewaltquote um 50 Prozent niedriger ist als in regulären Schulen und das akademische Niveau höher.“4
Giraffenähnliche Möglichkeiten im bestehenden Schulsystem
Für Unterrichtsstoff, der im bestehenden Schulsystem gelernt werden muss, aber für die Kinder und Jugendlichen wenig Sinn ergibt, empfiehlt Rosenberg, nicht nur Informationen zu präsentieren, sondern auch den Grund für diese Art der Vorgehensweise zu erläutern, um sie nachvollziehbar zu machen. Außerdem könne man den Schülern erklären, dass sich die Menschen auf gewisse Standards geeinigt hätten. Sich daran zu halten, wäre daher hilfreich.
Wieder wird den jungen Menschen ein Sinn vermittelt, mit dem sie erkennen können, welchen Nutzen sie aus dem Gezeigten ziehen können.
„Schulen versuchen mit aller Macht, dieses System zu erhalten. Also lasst uns dieses Spiel nicht mitspielen, lasst uns für jeden Schüler anhand seines Wissensstandes ein individuelles Lernpensum festlegen. Und dann vergeben wir die beste Note an diejenigen, die ihr gesamtes Pensum lernen. Wir überlegen uns, wie viel Wissen ihr jeweils braucht, um eine bestimmte Note zu bekommen und dann sucht euch aus, welche Note ihr haben wollt und lernt so lange, bis ihr sie habt,“4 schlägt Rosenberg für den Unterricht vor.
Eine Lehrerin in den USA hat diese Methode ausprobiert und ihn mit folgenden Worten kontaktiert: „100 Prozent der Schüler haben 100 Prozent des vorgesehenen Stoffes für dieses Trimester erreicht, was mache ich jetzt? Wir haben noch zwei Monate vor uns.“4
Wie kommt es, dass diese Unterrichtsart funktioniert? Ganz einfach – sie nimmt den Zwang von außen und motiviert durch Wertbestimmung und Eigenermächtigung. „Wenn Schüler genau wissen, was der Wert dessen ist, was sie lernen und wie sie selber einteilen und bestimmen können, was sie lernen und welches Level sie erreichen wollen, dann werden Sie als Lehrerin Probleme haben, die Schüler vom Lernen abzuhalten.“4
Kommentar zu diesem Beitrag: „Giraffen“ braucht die Welt
Quellen:
1 Freie Schule. Mag. Brandmayr, Julia: Gehirngerechtes Lernen – neueste Hirnforschung; 04.10.2020
² Renz-Polster, Herbert & Hüther, Gerald: Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken; Beltz Verlag, 2022
³ Hüther, Gerald & Heinrich, Marcell & Senf, Mitch: #Education For Future: Bildung für ein gelingendes Leben; Goldmann Verlag, 2020
4 Rosenberg, Marshall B.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation: Ein Gespräch mit Gabriele Seils; Herder Verlag, 2018
5 Rosenberg, Marshall B.: Giraffensprache – Gewaltfreie Kommunikation im Alltag; Junfermann Verlag, 2021
Bernstorff, Alex von: Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern – Praxisgrundlagen für wertschätzende Erziehung nach dem Modell von Rosenberg; Independently published, 2020
Holt, John & Farenga, Pat: Teach Your Own: The Indispensable Guide to Living and Learning with Children at Home; Hachette Go, 2021
Holt, John: How Children Learn; Da Capo Lifelong Books, 2017
Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation – Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen; Junfermann Verlag, 2002
Unerzogen Magazin. Gray, Peter: Freude und Betrübnis beim erneuten Lesen von John Holts „Wie Kinder lernen“