FreiSein für direktdemokratische und konsensuale Entscheidungsprozesse
Stell dir vor, es gilt, eine Entscheidung zu treffen und jede Sichtweise wird berücksichtigt. Was auf den ersten Blick unmöglich wirkt, lässt sich mit Hilfe der Soziokratie tatsächlich umsetzen.
Der französische Philosoph Auguste Comte, der auch als Begründer der Soziologie als Wissenschaft gilt, prägte am Anfang des 19. Jahrhunderts den Begriff „Soziokratie“. Damit beschrieb er nach wissenschaftlichen Erkenntnissen die Regeln eines sozialen Miteinanders aller Mitglieder einer Gruppe. Rund einhundert Jahre später proklamierte der holländische Friedensaktivist Kees Boeke das Wort Soziokratie. Der niederländische Sozialreformer veröffentlichte 1948 die Schrift „Soziokratie – Demokratie, wie sie sein könnte.“ Darin beschrieb er die Alternativen zu den aus seiner Sicht unvollkommenen Entscheidungen nach dem Mehrheitsvotum. In der von ihm gegründeten Schule „Werkplaats Kindergemeenschap“ erfolgte die gemeinsame Beschlussfassung nach soziokratischen Prinzipien.
Ein Schüler Boekes, der Kybernetiker Gerard Endenburg, entwickelte in seiner Firma auf Basis der Soziokratie und der Kybernetik ein neues System für Management und Führung. Nachdem er dieses erfolgreich implementiert hatte, sah er sich ermutigt, seine Ideen in die Welt zu bringen. So gründete er 1980 das Beratungsunternehmen Scoicratish Centrum Rotterdam, von wo sich die Soziokratie zuerst in den Niederlanden und dann in der ganzen Welt zu verbreiten begann. Anfang der Jahrtausendwende schwappte die Idee auch über den Atlantik in die USA und nach Kanada.
Seither ist die Soziokratie zum Standard für Entscheidungsprozesse in Cohousing-Projekten geworden, Einzug gehalten hat sie auch in Schulen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, bei großen NGOs wie Südwind und Armutskonferenz, im Nachhaltigkeitsbereich und mittlerweile auch in Profit-Unternehmen.
Und wie funktioniert das soziokratische Prinzip nun tatsächlich?
Vier Grundprinzipien bilden die Basis für eine effektive Zusammenarbeit auf Augenhöhe und dienen dazu partizipative Entscheidungsstrukturen aufzubauen und Selbstorganisation zu ermöglichen:
Beim Konsent-Prinzip geht es darum, Entscheidungen erst dann zu treffen, wenn alle Einwände gehört und in den Vorschlag integriert wurden. Erst wenn es keine schwerwiegenden Einwände (die etwa darauf hinweisen, dass mit einer solchen Entscheidung das große Ganze in Gefahr wäre) gibt, ist eine Entscheidung gültig.
Jede soziokratische Organisation ist in „Kreisen“ organisiert (Kreis-Prinzip), das sind Arbeitsgruppen bzw. Abteilungen, die ihre Entscheidungen autonom im Rahmen der festgelegten Kompetenzen aber mit Blick auf die Gesamtheit der Organisation treffen.
Jeder dieser Kreise ist mit seinem jeweiligen übergeordneten Kreis „doppelt gekoppelt“ (Prinzip der doppelten Verknüpfung). Zum einen wird der jeweilige Leiter vom übergeordneten Kreis bestimmt und im jeweiligen Kreis ein Delegierter für den übergeordneten Kreis gewählt. Diese bestimmen einerseits mit, andererseits haben sie Berichtsaufgaben.
Auch die Wahl von Personen für Funktionen und Aufgaben erfolgt nach dem Konsentprinzip (Prinzip der Offenen Wahl), dem ein offener Austausch von Argumenten vorangeht. Dabei wird im Kreis herum so lange argumentiert, bis alle Argumente am Tisch liegen. Erst wenn alle Kreismitglieder der Wahl einer bestimmten Person zustimmen, wird dieser die betreffende Aufgabe oder Funktion übergeben. Natürlich muss auch die gewählte Person selbst ihren Konsent dazu geben.
Wesentlich ist auch eine veränderte Haltung der handelnden Personen. Es werden keine formalen Hierarchien gebildet. Ziel ist es, die kollektive Weisheit zu nutzen, effizient mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen, um die gemeinsam gesetzten Ziele effektiv zu erreichen. Es gilt ein „Sowohl-als-Auch“ anstatt eines „Entweder-Oder“. Entscheidungen werden zudem nicht für die Ewigkeit getroffen, Beschlüsse werden laufend evaluiert und können auf dieser Basis jederzeit geändert werden. Fehler werden als Entwicklungschancen begriffen und daher offen angesprochen. Ebenso dienen Störungen und Spannungen als Bereicherungen, die bearbeitet werden. Die Soziokratie bietet auch ein hohes Maß an Transparenz, da alle Beteiligten Zugang zu den für die Entscheidung notwendigen Informationen bekommen.
Auf der Webseite des Soziokratiezentrums sind Beispiele für die praktische Umsetzung in Unternehmen und Non-Profit-Organisationen dokumentiert.